herr tietz macht einen weiten einwurf : Hamburger Muskelwart
Fritz Tietz erinnert sich an das Spiel, durch das Hermann Rieger beschloss, den HSV für immer zu lieben
Herr Tietz ist 45 Jahre alt, lebt als Nachfahre ostpreußischer Einwanderer in der Nordheide und treibt gelegentlich Sport.
Hermann Rieger, legendärer Masseur des Hamburger SV und mittlerweile pensioniert, dürfte nicht nur der weltweit einzige Exmannschaftsbetreuer mit eigenem Fanclub sein, er gilt auch nach wie vor (nach Uwe Seeler, versteht sich) als meistverehrter HSVer. Klar, dass Rieger bei einem Hamburger Theaterstück von und über Fußballfans auf Wunsch seiner Macher unbedingt mit von der Bühnenpartie sein sollte. Klar auch, dass sich der beliebte Muskelwart nicht lange bitten ließ.
In besagtem Stück des Hamburger Thalia-Theaters geht es um eine Rotte Schlachtenbummler, wie man Fans heute leider nicht mehr nennt, und besonders um deren Kultur, die vor allem auch eine Reisekultur ist. Schließlich darf sich nur, wer seine Mannschaft regelmäßig auswärts begleitet, als ihr wahrer Fan bezeichnen. „Hinter euren Zäunen“ lautet der Titel des „dokumentarischen Spektakels“ über ebendiesen Fantypus des Auswärts- bzw. Allesfahrers – das ist der, der seiner Mannschaft sogar zu Freundschafts- oder Trainingsspielen nachreist. Maßgeblich entwickelt wurde der Bühnenstoff mit Unterstützung einiger Theaterleute von einem Dutzend echter HSV-Supporter. Sie brachten das äußerst kurzweilige und unterhaltsame Stück auf die Thaliabühne, wo es seit September läuft. Am 19. und 22. Dezember stehen die nächsten Aufführungen an.
Hermann Riegers Auftritt in dieser durchweg flott arrangierten Szenenmontage erfolgt kurz vor der Pause. Unvermittelt steht er plötzlich auf der Bühne und erzählt ein bisschen was über seine HSV-Zeit. Und schnell wird klar: Wenn hier einer Auswärtsfahrer genannt werden muss, dann Hermann Rieger. Schon seiner Herkunft wegen. Schließlich war er als Bayer in Hamburg ein halbes Berufsleben lang gewissermaßen auf Auswärtsfahrt. Von 1978 an bis zu seiner Verrentung 2004 blieb der Mittenwalder trotz etlicher und lukrativer Angebote anderer Vereine über ein Vierteljahrhundert als Wadenkneter bei den Fischköpfen.
Eine Kleinigkeit beeindruckte mich an Hermann Riegers Bühnenvortrag besonders: Dass er exakt den Tag zu datieren wusste, an dem sich seine unzerbrüchliche Treue zum HSV manifestierte. Es war der 2. Juni 1979. Vorletzter Spieltag der 16. Bundesligasaison. Der HSV lag mit 2 Punkten Vorsprung vor Stuttgart an der Tabellenspitze. Stuttgart spielte zu Hause gegen Köln. Die Hamburger mussten auswärts gegen Bielefeld ran. Während Stuttgart überraschend verlor, schaffte Hamburg auf der Bielefelder Alm dank eines überragenden Torwarts Kargus, wie sämtliche Spielberichte hervorheben, ein 0:0. Damit lag der HSV vor dem letzten Spieltag uneinholbar 3 Punkte vorn. Erstmals seit Bestehen der Bundesliga war Hamburg somit deutscher Meister. Der darob spontan ausbrechende Begeisterungstaumel der zahlreich nach Bielefeld mitgereisten HSV-Fans brannte sich Rieger als ein so eindrückliches HSV-Erlebnis ein, dass er beschloss, den Verein fortan nie mehr missen zu wollen.
Ich war damals ebenfalls auf der Alm, wie ich mich bei Riegers Schilderungen plötzlich sehr gut erinnerte. Nicht als Hamburger Auswärtsfan, sondern als einheimischer und am Ende ziemlich trauriger Anhänger der Arminia, deren abermaliger Abstieg durch das 0:0 besiegelt ward. Die von Rieger beschriebene Hamburger Begeisterung ist mir allerdings in keineswegs angenehmer Erinnerung geblieben. Nie wieder habe ich danach eine durchgeknalltere Meute erlebt als diese geradezu furchterregend entrückten Hamburger Fans, die sich nach dem Abpfiff wie besengt gebärdeten und inklusive der eigenen Gesundheit alles riskierten, um aufs Spielfeld zu gelangen. Zum Glück hielten die Bielefelder Sperrzäune dem gewaltigen Druck des Mobs stand. Nicht so eine Woche drauf, nach dem letzten Saisonspiel im Hamburger Volksparkstadion. Dort brach unter dem abermaligen Meisterbegeisterungssturm der Fans in der Westkurve ein Stück des Zauns, worauf tausende Zuschauer durch das allerdings viel zu enge Loch ins Stadioninnere drängten. Hunderte wurden verletzt, 71 davon schwer. Wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben.
Davon berichtete Hermann Rieger allerdings nichts.