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Archiv-Artikel

herr tietz macht einen weiten einwurf Trunkener Zeitzeuge

FRITZ TIETZ erfährt von einem wahrlich weltmeisterlichen Sportereignis. Bis dahin sind es noch vier Tage

„Noch 63 Tage“, las ich neulich auf der elektronischen Anzeigentafel des Hamburger Bahnhofs Sternschanze, als ich nach durchzechter Nacht auf dessen zugigen Bahnsteig geschlingert kam, um mich von einer S-Bahn nach Hause schuckeln zu lassen. Noch 63 Tage? Ich schaute noch mal hin, hatte mich aber nicht geirrt. Da, wo sonst die verbleibenden Minuten bis zum Eintreffen des nächsten Zuges angezeigt werden, stand: „Noch 63 Tage“. Das schien mir arg lang hin. Zumal es bitterkalt war zu dieser frühen und müden Stunde, es obendrein eklig regnete und ich von den zahlreichen Bieren, die ich zuvor in mich reingeschüttet hatte, auch innen ziemlich angefeuchtet war. Von den vielen Schnäpsen ganz zu schweigen. Letztere vor allem waren wohl für die etwas längere Leitung verantwortlich, die ich an diesem Morgen brauchte, um endlich zu begreifen, dass sich die Zeitangabe „Noch 63 Tage“ lediglich auf den Beginn der Fußball-WM bezog.

Dieser bestimmt nicht nur Trunkenbolde verwirrende Countdownservice des Hamburger Verkehrsverbunds ist nur ein kleines Beispiel für den mählich alles andere überlappenden Bohei, der derzeit um das Fifa-Turnier entfesselt wird. Andere Sportereignisse, selbst solche von weltmeisterlichem Rang, finden im Vorfeld dieses Events zwar durchaus statt, werden aber von der hiesigen Presse nicht groß beachtet. Oder wussten Sie, dass nächste Woche in Bremen die WM im Tischtennis ausgetragen wird? Ich jedenfalls hatte bis vor ein paar Tagen nicht den geringsten Schimmer. Ich musste erst von meinem Fünf-Euro-fünfzig-Job-Kollegen Jörg gebeten werden, ab Montag ein paar seiner Schichten zu übernehmen, um von dieser WM zu erfahren. Als enthusiastischer Tischtennisfan möchte Jörg gern zwei, drei WM-Tage als Zuschauer in Bremen verbringen und muss deshalb unbedingt frei haben.

Warum der Kollege so darauf brennt, einmal die Tischtennis-Weltspitze („Vor allem die Kinesen!“) leibhaftig die Bälle übers Netz schmettern zu sehen? Weil er selbst ein schwer aktiver Schnippelkönig ist. So nannten wir jedenfalls früher jene Cracks, die einen mittels ihrer genauso undurchschaubaren wie fiesen Anschnitttechniken immer so gnadenlos ablederten – falls sie sich überhaupt zu einem Match mit so wenig talentierten Pingpongspielern wie mir herabließen. Ich habe das nie begriffen, wie man diesen verdammten Plastikball solche Kurven fliegen lassen kann oder ihn so zu drallen imstande ist, dass er eben noch geradewegs auf einen zuzufliegen scheint, aber just in dem Moment, in dem man ihn sicher mit seinem Schläger treffen zu können glaubt, plötzlich in der Luft stehen bleibt und dann matt auf die Platte niederploppt, während man selbst wie ein Irrer darüber hinwegsäbelt und ins Leere haut. Kein Wunder, dass ich alsbald ziemlich demotiviert dem Tischtennis abschwor und mich nur noch mal gelegentlich an einem geselligen Rundlaufen beteiligte. Aber selbst dabei nur selten ins Finale kam.

Jörg hingegen blieb damals am hagelkorngroßen Ball. Inzwischen drischt er seit über 40 Jahren im Trainings- und Spielbetrieb seines Kreisligavereins auf die 38 Millimeter kleine Plastikkugel ein. Künftig wird ihr Durchmesser vielleicht 40 Millimeter betragen, verriet mir Jörg, der sich überhaupt saugut im Tischtennissport auskennt. Auch das Netz soll demnächst wohl höher werden. Weiß ich ebenfalls von Jörg. Und Frischkleben wird in absehbarer Zeit verboten. – Frischkleben? – Wassen das? Wie gut, wenn man einen tischtenniskundigen Kollegen hat, der einem auch das erklärt. Aus den einschlägigen Medien erfährt man ja derzeit nur, in wie viel Tagen die Fifa-WM beginnt.

Die Tischtennis-WM startet am nächsten Montag und endet am 1. Mai, und selbstverständlich habe ich Jörgs Wunsch entsprochen und werde seine Schichten übernehmen, damit er in Bremen dabei sein kann. Obwohl ich nach allem, was mir der Kollege so mitreißend erzählte, jetzt auch gern mal hinfahren würde. Aber das geht nun nicht mehr. Muss die ganze Zeit arbeiten.