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hauptstadtkultur, orchesterlandschaft etc ...Fast unheimlich: der Kent-Nagano-Hype in Berlin

Berg-Variationen

Aufgerissen und gepflügt hat man die Berliner Orchesterlandschaft in den vergangenen Wochen. Daniel Barenboim hat seinen Abtritt mit durchaus frechen Forderungen an den Berlin Senat provoziert; das künftige Profil der Staatskapelle ist damit zur Diskussion freigegeben. Claudio Abbado hingegen nötigte seinen Intendanten, Elmar Weingarten, mit rüden Attacken aus dem Amt. Die Übergangszeit bis zum Amtsantritt von Sir Simon Rattle kostet offensichtlich Nerven. Dabei wurde erstmals auch die drohende Auszehrung des deutschen Vorzeigeorchesters beklagt.

Dunkle Wolken also, die tief im Himmel der Berliner Hochkultur hängen und deren Entladung keineswegs Reinigung verspricht. Nur in den Räumen des Deutschen Sinfonieorchesters dürfte in diesen Tagen eitel Sonnenschein herrschen. Denn seitdem Kent Nagano zum Saisonbeginn die musikalische Leitung übernommen hat, wird das DSO schwärmerisch umworben. Um die Zukunft des Orchesters macht sich derzeit niemand Sorgen.

Zwar führte das ehemalige Rias-Orchester auch in den vergangenen Jahrzehnten noch kein Schattendasein. Unter Dirigenten wie Lorin Maazel, Ricardo Chailly und Vladimir Ashkenazy mangelte es nie an Ausstrahlung und verbriefter Internationalität. Mit Kent Nagano, Jahrgang 1951, bricht aber doch eine neue, eine jugendliche und moderne Ära an, die angesichts der kriselnden Konkurrenz noch etwas heller leuchtet, als man erwarten konnte.

Bewundert und gefeiert wurde dieses Leuchten schon beim ersten Konzert des Orchesters unter seinem neuen Chef bei den diesjährigen Berliner Festwochen. Mit kräftigem Gestus und so ganz ohne Pathos tauchte Nagano die Orchesterwerke Alban Bergs in satte Farben. Das Konzert wurde nicht nur von der Kritik, sondern auch vom Publikum mit Applaus überschüttet, was angesichts eines reinen Berg-Programms keineswegs selbstverständlich ist. Fette Lorbeeren ernteten Dirigent und Orchester auch für ihre ersten gemeinsamen Tonträger. Für ihre kürzlich bei Teldec erschienene Einspielung mit Mahlers dritter Sinfonie schalteten die örtlichen Feuilletons geschlossen auf den Urteilsmodus „Raunen“.

In der Programmgestaltung der angelaufenen Spielzeit erkennt man überdies den Willen, Berlins Publikum wagemutig in ein neues Zeitalter zu führen. Nicht nur wird das Programm über weite Strecken von zeitgenössischer Musik beherrscht. Es kommt auch zu ungewohnten Gegenüberstellungen: Bachs „Goldberg-Variationen“ müssen sich vor Bruckners fünfter Sinfonie behaupten; Messen des niederländischen Renaissancemeisters Johannes Ockeghem werden gleich mehrfach mit Werken Gustav Mahlers konfrontiert. Dabei spricht es für Nagano, dass die Alte-Musik-Partien tatsächlich von den Koryphäen der historisch informierten Aufführungspraxis vorgetragen werden, von The Tallis Scholars etwa oder dem Hilliard Ensemble.

Man kann sich der Euphorie, die um Nagano herrscht, durchaus anschließen. Der amerikanische Dirigent mit japanischem Familienhintergrund gehört tatsächlich zu den großen Offenbarungen, die das Fach der Orchesterleitung derzeit zu bieten hat. Aber man kommt angesichts des ungeteilten Einverständnisses, mit dem man dem Phänomen Nagano begegnet, doch ins Grübeln. Natürlich verlieh Nagano Bergs Orchesterwerken Schattierungen, die unverbraucht und neu klangen. Aber ist dieser mit dicken Pinselstrichen gemalte Berg wirklich nicht nur anders, sondern kategorisch besser als etwa die schlanke und kernige Interpretation der „Lulu“, die Michael Gielen unlängst an der Berliner Staatsoper zu Gehör brachte?

Es herrscht zurzeit in Berlin ein Nagano-Hype, der die Bahnen kritischer Auseinandersetzung lange hinter sich gelassen zu haben scheint. Vielleicht kann es aber auch nicht schaden, der Hoffnung der Berliner Orchesterlandschaft einen üppigen Vorschuss einzuräumen. Die ersten Raten hat Nagano bereits zurückgezahlt.

BJÖRN GOTTSTEIN

Am 8. und 9.  10. spielen Kent Nagano und das Deutsche Symphonie-Orchester gemeinsam mit The Tallis Scholars in der Berliner Philharmonie Werke von Johannes Ockeghem, Anton Webern und Gustav Mahler

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