hamburger szene : Ein Fleck auf der Straße
Der Sonnenschein passt nicht zu dem Fleck auf der Straße. In meinem MP3-Player dudelt Ben Folds vor sich hin. Ich steige vom Fahrrad und gehe ein wenig näher ran. Der Fleck ist braun.
Ein dünnes Beinchen ragt heraus. Auf den festgefahrenen Federn liegt ein gelber Schnabel. Davor hockt zitternd ein schwarzer Amselmann. Mit blanken Augen schaut er auf die Straße, auf den Fleck. „Hallo“, sage ich. „Ist das deine Frau?“ Er rührt sich nicht. Auch nicht, als ich seinen Rücken streichele und ihm vom großen Vogelhimmel erzähle. Er zittert nur. Schaut auf den Fleck.
Wen ruft man in so einem Fall an? Die Polizei? Die Feuerwehr? Den Tierarzt? Behutsam wickele ich den Amselmann in ein Handtuch und setze ihn in einen Garten, hinter eine Hecke, mit dem Rücken zur Straße. Dann fahre ich weiter.
In meinem Kopf sehe ich die Schlagzeilen des nächsten Tages: „Familiendrama. Amselmutter hinterlässt Mann und vier Kinder.“ Dann die Diskussionen über neue Tempolimits und die steigende Zahl der Verkehrstoten im Abendprogramm von ARD und ZDF. Am Mittag ist der Fleck auf der Straße kaum noch zu erkennen. Er sieht nun fast schwarz aus, wie Asphalt.
Abends schalte ich den Fernseher an. In den Nachrichten kein Wort von einer verunglückten Amsel, und auch die Zeitung am nächsten Morgen verrät nichts von dem Unfall. Selbst „Explosiv“ interessiert sich nicht für den Fall. Hat außer mir denn keiner den Fleck auf der Straße gesehen? Anna-Lena Wolff