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glatzenstreicheln mit sibylle tönnies

von WIGLAF DROSTE

Gut, dass es Schriftsteller gibt, die anderer Leute Mist lesen und aufbewahren. Henryk M. Broders neue Aufsatzsammlung „www.Deutsche-Leidkultur.de“ (Ölbaum Verlag) hilft dem kurzatmigen kollektiven Gedächtnis auf die Sprünge. Dem Buch verdanke ich unter anderem die Kenntnis eines Artikels, den Sibylle Tönnies am 28. 11. 2000 im Feuilleton der Tageszeitung Die Welt veröffentlichte. In Auszügen zitiert Broder, was die Bremer Professorin für Sozialwesen und taz-Meinungskolumnistin über „Neo-Nazis in Schutzhaft“ von sich gab. Wer den Text von Tönnies daraufhin komplett liest, wird sehen, dass Broder nicht schummelte.

Über eine Demonstration von Nazis am Neptunbrunnen am Berliner Alexanderplatz schreibt Tönnies: „Hoch oben der Wassergott in schäumend- königlicher Pose, um ihn her wogen Nixen. Um Nixen und Brunnen herum formt sich ein weiterer Kranz aus kahlen, hellen Schädeln. Es sind Neonazis, die eine Kundgebung abhalten. Sie bilden einen engen Kreis, weil sie nicht anders können – um sie schlingt sich wiederum ein grüner Gurt, der sie zusammendrückt: die Polizei. Eine politisch-plastische Rosette. Ein groteskes Mandala.“ Ah ja.

Anti-Nazi-Demonstranten beschreibt Tönnies so: „Pfeilgleich stechen ihre ausgestreckten Arme gegen die feindliche Mitte [...] Dazu werden mit heiserer Stimme Parolen skandiert.“ Während Nazis als moderne Gandhis mit „Duldermiene“ aufschimmern: „Die kahlen Schädel hingegen sind freie, leuchtende Zielscheiben. Noch ist keiner getroffen. [...] Die Kundgebung wird über Polizeilautsprecher abgesagt. Man könne ihren Schutz nicht mehr garantieren, sagt man den Nazis, und sie würden jetzt zum S-Bahnhof Alexanderplatz geführt.“ So schlimm ist das für Tönnies, die sich selbst als „erschrockene Zuschauerin“ sieht, dass ihr final die Sicherungen durchbrennen: „Das Bild erinnert in erschütternder Weise an einen KZ-Marsch. Die rasierten, geneigten Köpfe, die bewaffnete Eskorte [...] Diese Nazis befinden sich in Schutzhaft [...], die Polizei schützt sie vor den Angriffen einer zum Lynchen aufgelegten Menge.“

Nazis unter Polizeischutz als KZ-Häftlinge, vom Lynchmord bedroht? Ich habe eine Menge übrig für Paradoxien, mit denen die Wirklichkeit unsere Wahrnehmung auf die Probe stellt – rein gar nichts allerdings für Nazipropaganda, die sich als Querdenkerei und politische Unkorrektheit wichtig macht und als rechter Sozialkitsch: „Man kann annehmen, dass nicht der Rechtradikalismus diese Unglücklichen so geformt hat, sondern ein in ihrer Biographie wütendes Schicksal. Sie brauchen den Rechtsradikalismus, um mit einer furchtbaren Kränkung zurechtzukommen. Ihnen bleibt als Stolz nichts anderes übrig als der Stolz darauf, Deutsche zu sein.“

Sibylle Tönnies komplettiert die Hirnwatte mit der Frage: „Wer wollte den ersten Stein heben?“ Die Antwort fällt ungewohnt leicht: Ich „wollte“ nicht, ich will. Sofort. Und der wehleidigen Nazicke nur antworten: Ihr dringendes Gesuch, in die Wüste ihres Kopfes abgeschoben zu werden, ist hiermit angenommen.

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