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Archiv-Artikel

fußpflege unter der grasnarbe Ailton, Kerner und das große „Lalalalalalalalala, Deutschland/Sverige/Danmark“

Kürzlich war ich Fußball spielen. 64 Mannschaften gebildet aus 64 Fanclubs, die vom FC St. Pauli einfach nicht zu vergraulen sind, luden zum Turnier. Und da ich per Mail erfahren hatte, ich hätte die „Ehre“, das Fanzine Übersteiger zu „verstärken“, tat ich wie mir geheißen. Wobei – dass ich mir die mutmaßlich einzige Zweiminutenstrafe des Turniers einhandeln sollte, hatte mich eigentlich keiner geheißen. Und dass ich den entscheidenden Elfer so schwach schießen sollte, dass der fünfjährige Sohn eines Mitspielers minutenlang in Tränen ausbrach, auch nicht.

Da wir also ausgeschieden waren, hatte ich Zeit, den Torjubel der Konkurrenz zu beobachten. Resultat: Je jünger der Jubler, desto theatralischer der Jubel. Wo der 35-Jährige nicht nur aus Alterschwäche auf zu viel Emphase verzichtet, reckt der 20-Jährige die Fäuste selbst beim 8:1 empor, als habe er gerade vom Lottogewinn erfahren. Doch ist all das noch gnädiges Understatement im Vergleich zu dem, was uns aus den Krabbelgruppen der Republik blüht. So sah ich einen Knirps, der den Ball einige Zentimeter vorwärts bugsierte, sich auf sein Real-Madrid-Trikot packte und deshalb den Ailton gab: So wie der würfelförmige Brasilianer nach Toren auf das Werder-W deutete („Das ist der Verein, den ich verlasse, weil er mir fast nichts bezahlt“), fingerte der Pimpf an seinem Real-Emblem herum. Ich hoffe, die Eltern werden Ailton wegen Verführung Minderjähriger anzeigen.

Das gleiche Spektakel bei der EM, wo sich tausende Fans freiwillig so verhalten, wie es die Medienmeute gerne sieht: Auf Kommando den Jubeljohannes geben und sich benehmen, als wolle man den Neandertalern die Schamesröte ins Gesicht treiben. An Peinlichkeit unterscheidet sich der Portugiese da nicht vom Schweden, allenfalls hält ersterer es ein bisschen mehr mit dem Sakrokitsch und wehklagt in der Kapelle, wenn der Stürmer lahmt und die Kamera naht. Globalisierung bedeutet eben nicht nur von Oslo bis Bogota zu erzählen, dass es anderswo Menschen gebe, die für noch weniger Geld arbeiten.

Globalisierung bedeutet in diesen Tagen vor allem, dass Fußballfans meinen, sie müssten den Rest an Menschenwürde kreischend opfern, um das zu mimen, was die Kerners dieser Welt für „Begeisterung“ halten. Kaum ist ein Spiel so langweilig, dass die Regie den Schwenk auf die Ränge ordert, ereignet sich deshalb das gleiche Schauspiel: Menschen, die gelangweilt vor sich hin stierten, reißen verzückt die Arme hoch, wedeln mit Schals und benehmen sich, als habe man einer Horde Paviane Speed ins Futter gemischt. Noch schlimmer wird das Ganze, wenn man aus Versehen den Ton anstellt, den man aus Gründen des Kerner-Schutzes ausgeblendet hatte. Es gibt in Europa scheinbar nur noch einen Fangesang, lyrics by Neandertal: „Lalalalalalalala, Deutschland/Sverige/Danmark“. Musikalisch sorgt allenfalls der Brite für ein bisschen Lokalkolorit, wenn er seine Hymne intoniert und allen Ernstes fordert, Gott (!) möge die Königin (!) retten (!). Wohl besser, ich lasse den Fernseher in den nächsten Tagen ganz aus und übe stattdessen ein paar Elfmeter.

Fotohinweis: Christoph Ruf ist Vertreter der norddeutschen Botschaft in Freiburg, seitdem er als Betriebsrat des und Autor über den FC St. Pauli Abstand brauchte