frau schwab geht unter leute : Redselige Sünder in der Besenwirtschaft
In Charlottenburg gibt es eine Besenwirtschaft. Seit 30 Jahren. Ununterbrochen. Ununterbrochen – das darf eigentlich nicht sein. Besenwirtschaften in Württemberg sind Lokalitäten, die nur vorübergehend hauseigenen Wein ausschenken dürfen. Vier Monate, mehr nicht. Aber daran hält man sich nicht in der Uhlandstraße, in bester Altwestberliner Lage, wo sich eine alternativ-etablierte Szene relativ unbeschadet durch Wende, Rezession und Prekarisierung laviert hat.
Nun aber zerbröselt die schöne Westberliner Kultur. „Im Tagesspiegel hab ich gelesen, dass Holtzmann 80 wird. Das war doch der vom Schiller Theater. Was ist draus geworden? Eine Schaubude für Werbeveranstaltungen. Und aus unserer Komödie machen sie ein Bürohaus“, sagt Dorrit, eine ältere Dame, und fügt hinzu: „Man muss die kulturellen Ereignisse selber machen. Wie nach dem Krieg.“ Ihren Beitrag leistet sie, indem sie am offenen Mikrofon etwas über „Völlerei im Mittelalter“ vorträgt.
Ein paarmal im Jahr ruft die Besenwirtschaft zum Do-it-yourself-Event. Dann sind die Stammgäste, die gemeinsam mit Wirtin Antje bei Andechser Bier, schwäbischem Wein, Tennis und Oper älter geworden sind, aufgefordert, Erbauliches zum Besten zu geben. Man könnte es „Salon“ nennen. „Wirtshaus-Salon“. Diesmal hieß das Thema „Sünde“.
Gebildeten fällt dazu einiges ein: Ehebruch. Oder Mord. Raucherkrebs und Saufen. Wolllust und Ficken. Und sie finden auch passende Autoren, um nicht alles selber sagen zu müssen: Boccaccio, Wilde, Gernhardt. Stundenlang darf man zuhören. Manchmal lacht jemand. Meist dann, wenn die Schilderung eines Besäufnisses oder Ehebruchs die ZuhörerInnen an ihre eigene Biografie erinnert. Höhepunkt des Abends ist Frauke. Sie trägt das Märchen vom Fischer und seiner Frau vor – in perfektem Platt.
In Kontakt mit den Vortragenden kommt man bei so viel Kultur kaum. Um dem vorzubeugen, hat Dolf Straub, der den Wirtshaus-Salon moderiert und eigentlich Adolf heißt wie Vater und Großvater, ein paar Infos über die Vorleser herausgerückt: „Norbert, Manfred und Erich sind oder waren Schauspieler“, ist zu erfahren. „Peter war Redakteur der Bauwelt. Marie-Helène lehrt an der Uni. Dorrit ist Janines Mutter – was Janine macht, weiß ich nicht. Herr Lange war ein hohes Tier beim Städtetag, vielgereist und enzyklopädisch gebildet. Frauke, überzeugte Nordfriesin, war Lehrerin in verschiedenen Teilen der Welt. Unklar ist, wer wann mit wem was hatte oder gern gehabt hätte.“
Einer, der neben mir steht, gehört nicht zu den Stammgästen, obwohl er ihr Alter hat. Ununterbrochen klimpert er mit seinem Hotelschlüssel. Dorrit und Janine, die auf Ohrenhöhe seiner Hosentasche sitzen, stört das, aber er begreift ihre Gesten nicht. Gottwald heißt er. „Den Namen müssten Sie kennen, nicht wahr? Erster Präsident in der Tschechei nach dem Krieg. Schlimmer Kommunist, nicht wahr.“
Der Besenwirtschaft-Gottwald ist Wirtschaftsprüfer. Was macht so einer? Er prüft Unternehmen, sagt er und zeigt auf Wirtin Antje. Sind Sie vom Finanzamt? „Niemand weiß, was ein Wirtschaftsprüfer ist, nicht wahr?“ Bei „nicht wahr?“, greift er sich an den kahlen Schädel. Wirtschaftsprüfer seien mir im Zusammenhang mit dem Bankenskandal ein Begriff, sage ich. „Negativ, nicht wahr, aber keiner hat ihre Berichte gelesen, nicht wahr?“ Gottwald weiß mehr, als er sagt. Das Wort „Treuhand“ fällt. Dann singt er dem Wein ein Loblied. Was war ihre größte Sünde?, frage ich. „Ha, Sünde, mir wäre lieber, man sagte ‚Fehler‘. Fehler darf man machen, Sünden nicht. Trotzdem werde ich es ihnen, nicht wahr, natürlich nicht sagen.“