frau schwab geht unter die leute : Ein Besuch im Madi-Zelt der Sinne im Nirgendwo von Reinickendorf
Eine Welt, in der man die Hände mit Rosenwasser wäscht, in Bühnen- statt Opiumnebel eintaucht und in Kissen versinkt
Nicht weit vom Knast in Tegel, dort wo der nördlichste Berliner Bezirk zwischen Nirgendwo und Nirgendwo am ödesten ist, liegt das „Zelt der Sinne“. Von außen ganz simpel, entfaltet es hinter der Eingangstür nichts als die Summe jenes Charmes, den die Farben Rot und Beige, Orange und Gold in Ornamenten vermischt, in Rosetten verschlungen, in Bordüren aufgefangen, in Tressen versprüht und in Quasten gebunden nur hergeben.
In gedämpftes Licht getaucht, gibt, wer hier ankommt, mit seinem Mantel auch die Verantwortung für sein Leben ab. „Tunken Sie ein Stück Brot in Olivenöl und anschließend in Kräuter“ sagt, nein, befiehlt ein Mann, der einen Fes auf dem Kopf und ein nordafrikanisches bodenlanges Hemd am Körper trägt. Er sagt es so, dass selbst der Hüne, den es aus Heidelberg hierher verschlagen hat, bereitwillig tut wie ihm befohlen.
Der Mann mit Fes ist Diener, verschwiegener Alleswisser, Page schmerzloser Initiation in einer Welt der orientalischen Attribute, in der man die Hände mit Rosenwasser wäscht, in Bühnen- statt Opiumnebel eintaucht und in Kissen versinkt.
„Ich muss mit Leuten sprechen, die Kolumne heißt ‚Frau Schwab geht unter Leute‘, bitte setzen Sie mich an einen Tisch mit Fremden“, sage ich zu ihm. „Sie müssen gar nichts“, antwortet er und führt mich ins „Harem-Zelt“ zu einem Tisch, an dem Menschen sitzen. Er wartet, bis sein Gast auf dem Sofa am Zeltrand Platz genommen hat, und bringt einen Schemel, auf dem Füße abgestellt werden können. Die beiden Frauen neben mir rücken zusammen. Besser gesagt: Sie rücken ab.
„Dinner-Show“ heißt das Event. Die Vorspeisen stehen schon auf dem großen Messingtablett, das hier den Tisch ersetzt. Noch wirken die anderen 30 Gäste, die auf dem Sofa entlang der Zeltwand sitzen, angespannt und unsicher, ob am Ende Kunst oder Klamauk die Oberhand hat.
Dann tritt ein Drei-Mann-Orchester auf – Trommel, Laute und Geige – und auch der Bauchtänzer Cihangir, verkleidet als Wesir. Alles zusammen ist er Hauptperson einer trivialen Geschichte, in deren Verlauf er seinen Namen verliert. Damit aber verliert er seine Identität, wie der Märchenerzähler Idriss Al-Jay, der ebenfalls die Bühne betritt, erklärt. Der Märchenerzähler ist ein Mediator. Er hilft der abendländischen Ignoranz, sich die orientalische Fantasie anzueignen.
Die Show ist noch gar nicht so richtig in Schwung, da hat Cihangir, alias der Wesir, alias der Namenlose das Publikum schon fest im Griff. Er erzählt von einer Aliya, in die sich ein Kalif verliebt, die aber, ach Gott, einen anderen …
„Auf jeden Fall“, meint der Wesir, „hat sie eine süße Nase.“ Immer wenn er in seiner Geschichte nun „süße Nase“ sagt, soll das Publikum „süße Nase“ wiederholen. Seine anschließende Wortkaskade enthält alles, was zum orientalischen Klischee gehört: Serail, Entführung, Schmerz meines Herzens, sie putzt ihre süße Nase, „süüße Naase“, raunt das Publikum. Hexe, Prinzessin, spanischer Schurke, Kuss auf die süße Nase, „süüße Naase“, großer Herrscher, Verbannung und Flucht. Dazu gibt es dramatisch aufgetragenes Couscous und einen Diabolo-Spieler, der sein Handwerk versteht.
Danach kommt eine Bauchtänzerin, und auch der Märchenerzähler meldet sich wieder. „Schmeckt Ihnen das Essen?“ Mit ungeheuer sanfter Stimme erklärt er den Couscous. „Das Gericht hat die Welt erobert.“ Als wandelndes Lexikon erläutert er außerdem, was es mit Baklava, Kaffee, der mit Kardamom verfeinert ist, und marokkanischem Minztee auf sich hat.
Seine Autorität als Leitfigur steht außer Frage. Nach seinem Abstecher in den Sufismus und die Suche eines Menschen nach dem Licht, sprich der Liebe, tritt der Wesir als Bauchtänzer auf. Auf seinem Kopf balanciert er einen neunarmigen Leuchter.
Später berichtet der Märchenerzähler von einer Prinzessin, die von ihrem Verehrer erwartet, dass er die Sterne tanzen lasse. Da wird das Licht ausgemacht und ein Künstler jongliert im Dunkeln mit erleuchteten Bällen. Als das Licht wieder angeht, lösen sich einige der Verliebten aus ihren Umarmungen.
Die Künstler schaffen es mit ihren minimalistischen Darbietungen, die Aufmerksamkeit der Gäste an sich zu binden. Nach drei Stunden liegen alle mehr auf den Sofas, als zu sitzen. Vorbehalte und Erwartungen zählen nicht mehr. Auch die beiden Frauen am Tisch teilen nun gern ihr Wissen und erklären, wie man die Wasserpfeife raucht. So? „Ja, einfach so.“
Hamdan Madi und seine Frau, eine waschechte Berlinerin, lieben die orientalische Märchenwelt, erzählt Herr Madi später. Weil sie bei Darbietungen immer unglücklich waren, ob des kalten Ambientes, haben sie ein Zelt mitten ins triste Nordberlin gesetzt. „Der märchenhafte Orient ist nur Trugbild einer längst vergangenen Zeit. Wir holen das Alte zurück in die Gegenwart.“ Dabei ist Madis Name Vermächtnis, denn „Madi“ bedeutet „Vergangenheit“. WALTRAUD SCHWAB