eu-zusage an türkei : Vollendete Tatsachen
Die Türkei-Debatte der vergangenen Wochen hat in Brüssel an die letzten Fragen gerührt: Wo endet Europa? Was für eine Union wollen wir? Welche Kräfte sind es, die unser Gebilde im Innern zusammenhalten? Alle, die sich an diesem Ringen um Antworten beteiligt haben, müssen sich nun – gelinde gesagt – verschaukelt fühlen.
KOMMENTAR VON DANIELA WEINGÄRTNER
Agrarkommissar Franz Fischler zum Beispiel, der neben einer beunruhigenden finanziellen Prognose auch historische und politische Vorbehalte ins Feld führte. Oder sein Kollege Frits Bolkestein, der öffentlich begründete, warum er Verhandlungen mit Ankara nicht unterstützen wird. Ebenso die Abgeordneten der größten Fraktion im Europaparlament, der konservativen EVP, deren Meinungsbildungsprozess gerade erst begonnen hat. Nicht zuletzt die Chefs der Parlamentsfraktionen, die sich gestern Nachmittag hinter verschlossenen Türen einen persönlichen Eindruck vom starken Mann aus Ankara verschaffen wollten. Sie alle wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.
Wenige Worte des türkischen Gastes genügten, um Erweiterungskommissar Günter Verheugen von dessen lauteren Absichten zu überzeugen. Man mag getrost weiter rätseln, ob ein tiefgläubiger Muslim seine innersten Überzeugungen der europäischen Zukunft seines Landes geopfert hat oder ob Verheugen und Prodi auf eine billige Inszenierung hereingefallen sind. Beide Varianten würden Ankara nicht gerade als verlässlichen Partner für die nun bevorstehenden Verhandlungen ausweisen.
Doch die werden kommen – auch wenn die Vorbehalte in der EU-Kommission nicht ausgeräumt sind und die Mehrheit des Europaparlaments womöglich anders entscheidet. Die Regierungschefs haben nun beim Gipfel im Dezember keinen Spielraum mehr, der Türkei etwas anderes als Beitrittsgespräche anzubieten – wollen sie nicht jede Glaubwürdigkeit gegenüber Ankara verlieren.
Die Frage, was für eine Union wir wollen, darf natürlich auch künftig gestellt werden. Was für eine Union wir derzeit haben, ist nach dem gestrigen Tag beantwortet: eine, in der demokratische Strukturen dekoratives Beiwerk sind. Dass der türkische Ministerpräsident Beschlüsse seines Parlaments nicht abzuwarten braucht, bevor er sich für sie verbürgt, überrascht nicht sonderlich. Dass aber auch ein Brüsseler Kommissar nach einem Vier-Augen-Gespräch per ordre de mufti handeln kann – das ist neu.