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Archiv-Artikel

eine wie keine von ILKE S. PRICK

„Glaubst du, das ist noch normal?“ Meine Freundin schüttelt verständnislos den Kopf. „Natürlich!“, antworte ich halbherzig und versuche vom Thema abzulenken. Sie aber lässt nicht locker und wedelt mit meinen Kinokarten. „Fünfmal Harry Potter und der Gefangene von Azkaban. Fünfmal? An einem Wochenende?“ Sie wiegt den Kopf immer noch von einer Seite zur anderen und ich kontere: „Absolut normal finde ich das. Sogar geradezu notwendig.“ Sie zieht die Augenbrauen hoch. „Hä? Notwendig wofür?“ „Notwendig für uns alle!“ Ihre Stirn ähnelt der eines Faltenhundes, als sie fragt: „Wer ist ‚wir‘?“ Ich hole Luft: „Du, ich, wir alle eben.“ „Wir alle?“ Leicht macht sie es mir nicht. „Ja. Zumindest diejenigen von uns mit einem Annika-Syndrom!“

Sie hat es so gewollt. Jetzt ist es raus. Eigentlich müsste ich erleichtert sein. So steht das jedenfalls in all den Selbsthilfebüchern: Bekenntnis – Verständnis – Erleichterung. Leider liest meine Freundin keine Selbsthilfebücher, denn mit ihrem Verständnis hapert es. „Annika-Syndrom?“ Das „m“ hängt verdächtig in der Luft. Nein, sie kann das auch nicht verstehen. Sie war ja immer die Pippilotta Viktualia Schokokminza. Sie hat ihr Pferd geschultert und durch ihre Zahnlücke gepfiffen. Ich war Annika. Jedes Mal. Annika mit den Pastellhosen. Annika mit dem ewigen Schiss vor allem. Eben diese Aber-Tommy-Mami-hat-doch-gesagt-Annika. Furchtbar! Während Pippi mit Bürstengleitschuhen die Küche putzte, machte ich mir Sorgen um meine weißen Söckchen. Und selbst als ich schon lange keine rosa Volantkleider mehr trug, nölte die Annika im Hinterkopf: „Finger weg von den Zigaretten! Mami wird das nicht gefallen …“ Dann kam die Rettung: Harry Potter, Band 1, Auftritt Hermine Granger! Seitdem ist alles anders.

Heulend wie Annika saß sie anfangs noch auf dem Schulklo, doch ziemlich schnell hängte sie ihr Streberimage an den Nagel, um Trolle zu jagen. Klug, ehrgeizig, loyal. Sie behält den Überblick, auch wenn’s kritisch wird. Durchgeknallte Pflanzen? Verwegene Zaubertränke? Mobbende Lehrer? Kein Problem für sie. Hermine, unser Role Model! Die His-Story wird neu geschrieben. „Oder was glaubst du, warum ich mir diesen ganzen Mumpitz anschaue?“ Alice Schwarzer, Judith Butler – Was soll der Quatsch? Konstruktion, Dekonstruktion – vergiss es. Revolution – das ist es! Aber ganz subversiv. Heimlich findet sie statt in den Köpfen kleiner Mädchen im schummerigen Leselampenlicht. Meine Freundin zweifelt.

Ich aber habe Visionen: In Teil 7 wird Harry Potter, der Langweiler, endlich wegen seiner lange verschwiegenen Beziehung zu Ron (Drachen, Geister – kein Problem. Aber Schwule? Also bitte!) von der Schule verwiesen und Hermine als jüngste Schulleiterin inthronisiert. Das sind Perspektiven! Die Bände 8 bis 29 werden Titel haben wie „Hermine und ihre Reformen“ oder „Hermine Grangers geheimes Wissen“. Selbst die neue Barbie wird aussehen wie sie. Zumal sie ja in Band 4 ihre vorstehenden Schneidezähne weggezaubert hat. Die Welt wird sich verändern. Vorbei die Zeiten der Selbstbehauptungskurse für Frauen. Stattdessen werden wir gemeinsam ins Kino pilgern. Am besten als Springprozession zum St.-Hermine-Tag.