ein chilene in berlin: MARCO FAJARDO über Gestern und Heute
Kreuzberg ist nicht überall
Vor wenigen Wochen reiste ich mit einem Wochenendticket von Dresden nach Hamburg. Ich musste drei Mal umsteigen: in Leipzig, Magdeburg und Uelzen. Irgendwo in der Mitte lag Salzwedel. Als der Zug hielt und ich aus dem Fenster schaute, bekam ich einen Schreck: Auf dem Bahnsteig standen etwa zwanzig Neonazis – bewacht von ebenso vielen Polizisten. Die Glatzen standen in kleinen Gruppen herum. Sie waren um die 20 Jahre alt, tranken Büchsenbier und unterhielten sich. Die Polizisten, ausstaffiert mit Helmen und Schutzschildern, liefen langsam auf und ab, ohne die Neonazis aus den Augen zu lassen. Ich hatte noch niemals so viele Rechte auf einem Haufen gesehen. Das machte mir Angst. Immer wieder schaute ich zu den Polizisten. Ihre Anwesenheit beruhigte mich. Ein bisschen. Aber nicht wirklich. Ich begann zu schwitzen.
Alte Erinnerungen tauchten auf: Im Sommer 1989 war ich in einem Ferienlager in Thüringen. Beim Fußball beschimpfte mich ein Spieler der anderen Mannschaft als „Scheißausländer“, nachdem ich ihm den Ball abgejagt hatte. Niemand stellte ihn zur Rede. Als Bewohner der damaligen DDR, des „antifaschistischen Staats“, verstand ich die Beleidigung nicht. Ich war damals 13 Jahre alt, in Dresden geboren und aufgewachsen.
Ein gutes Jahr später, die Mauer war schon gefallen, war ich der einzige ausländische Junge in der 7. Klasse der Oberschule „Pablo Neruda“ in Dresden. Als eines Tages auf dem Pausenhof Faschos auftauchten, schrieb ich auf Schulbänke „Nazis raus“ und „Lieber rote Socke als braune Kacke“. Irgendwann sprach mich einer von ihnen in der Mittagspause an und wollte wissen, ob ich das gewesen sei: „Klar, wir sind doch jetzt eine Demokratie“, antwortete ich. „Pass auf dem Weg nach Hause auf“, drohte er. „Dir könnte was passieren.“ Meine Stiefschwester, die damals in Köpenick wohnte, wurde in jenem Jahr auf dem Heimweg von der Schule von einem Neonazi angegriffen und konnte sich nur mit Karate retten. Plötzlich hatte ich Angst, auf die Straße zu gehen.
Ich war froh, als meine Familie wenige Monate später nach Chile zurückkehrte. In Santiago genoss ich es, durch die Stadt zu laufen und niemanden aufzufallen. Keine dummen Blicke mehr beim Einkaufen, keine Angst mehr nachts an Bushaltestellen. In Chile war ich kein Ausländer mehr.
Jetzt, zwölf Jahre später, bin ich wieder in Deutschland und ich fühle mich wohl. Ich wohne in Kreuzberg, wo jeder Dritte ein Ausländer ist. Man trifft Studenten, Alt-68er, Schwule, Punks, Behinderte. Die Straßen sind belebt, Graffitis rufen zu Revolutionen auf, zur Benutzung von Kondomen oder zur Unterstützung der salvadorianischen Befreitungsfront FMLN. Jedem das Seine.
Nur eins stört mich in Berlin: Immer auf den Stadtplan zu gucken, wenn mich jemand einlädt, um sicher zu sein, dass es nicht nach Marzahn, Lichtenberg oder Hellersdorf geht. Freunde haben mir von diesen Bezirken abgeraten: misstrauische Blicke, dumme Sprüche, dicke Luft. Berlin ist wie der Rest von Deutschland: Es gibt Autonome und Skinheads, Ostermärsche und „national befreite Zonen“, Gregor Gysi und Edmund Stoiber.
Marco Fajardo (26) arbeitet seit drei Jahren als Journalist in Chile und ist zurzeit im Rahmen des Journalistenaustauschprogramms IJP in der taz
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