ein amerikaner in berlin : Jesse Shapins über Bergluft in der City
Berlin ist eine wirkliche Synthese aus Großstadt und Provinz
Niemand will mir glauben: „Du lebst lieber in Berlin als New York?“, werde ich oft gefragt. „New York ist die Spitze der Großstädte, nein? Ist New York nicht der Traum der modernen Stadtliebhaber? Dagegen ist Berlin eine Provinzstadt. Oder?“
In Mai 2002 habe ich meinen Abschluss in New York gemacht. Ich habe die Geschichte und Entstehung von Städten studiert, die Kompliziertheit ihrer Gegenwart und die verschiedenen Albträume und Utopien ihrer möglichen Zukunft. Nach dieser Erfahrung hatte ich keinen Zweifel: Berlin musste mein neues Zuhause werden. Ich entschied mich, die USA zu verlassen. Seit dem Sommer 2002 wohne ich in Berlin.
Von meiner Herkunft her gibt es keinen Grund, dass Berlin meine gewählte Heimat würde. Für mich, halbjüdisch, aus einer Kleinstadt in Colorado, waren Deutschland und Berlin in meiner Kindheit nur vage Verkörperungen des Bösen der Welt. Im Ausbildungssystem Amerikas wird Deutschland komplett auf den Zweiten Weltkrieg reduziert. Die Existenz eines heutigen Deutschland und Europa wird völlig übergangen.
Vor meiner ersten Fahrt nach Berlin im Sommer 2000 war mein Bild der Stadt nur von Aufnahmen aus der Nazizeit geprägt. Als ich ankam, war ich total überrascht, eine farbige Stadt zu sehen, schöne, lebendige Straßen. Und vielleicht noch überraschender waren die Menschen – „jene Deutschen“. Der Strom der Menschen um mich waren nicht Nazis, sondern sehr friedliche, freundliche, progressive Leute.
Mein erster Berliner Aufenthalt dauerte nur vier Tage, aber in dieser kurzen Zeit wurde mir klar, dass Berlin der Ort war, wo ich mein Leben entfalten sollte. In New York werden alle zu einer Art Leben gezwungen, die von fast 100-prozentig von ökonomischen Ambitionen oder Bedürfnissen bestimmt ist. Freiraum – sowohl physisch als auch metaphorisch – gibt es nicht. Fast niemand hat die Zeit und das Geld, alternative Lebensweisen zu entwickeln. So sehr die Stadt sich auch als „unamerikanisch“ bezeichnen möchte, ist sie in der Wirklichkeit doch die Apotheose des Amerikanischsten: komplett sozial gespalten, provinziell, von einem blindem sameness beherrscht.
Trotz seiner wirtschaftlichen Konjunktur und meines Status als Ausländer bietet mir Berlin eine Menge Möglichkeiten, meinen Interessen nachzugehen – verglichen mit New York. Zurzeit arbeite ich gleichzeitig als Künstler-Galerist im Wedding, bearbeite englische Texte für eine Zeitschrift, schneide Videos und studiere weiter. Solch eine Vielfalt an Lebensrichtungen konnte ich nie in New York haben.
Außerdem ermöglicht Berlin eine unvergleichbare Lebensqualität. Berlin ist eine Synthese aus Großstadt und Provinz, ohne die entsprechenden Nachteile beider. Obwohl es Großstadt ist, ist Berlin fast völlig mit Grün überwachsen. Oft habe ich das Gefühl, dass ich Bergluft atme.
Berlin ist eine Provinzstadt, aber auch gleichzeitig eine Weltmetropole. Im Kulturbereich konkurriert Berlin mit allen Städten der Welt, und die Stadt siegt oft dank ihres Mangels an Arroganz. Das Bild Berlins, das ich wahrnehme, ist ein Bild der Stadt, das aus Vergleichungen gebildet wurde. Ich leugne nicht die vielen Probleme der Stadt, aber zurzeit geht es hier so gut wie nirgendwo in der Welt. Meine einzige Klage gegen Berlin wäre, dass die Verwaltungen und die Mehrzahl seiner Bewohner die positiven Besonderheiten der Stadt weder anerkennen noch würdigen. Das Ziel der Zukunft soll nicht New York werden, sondern die Eigentümlichkeiten Berlins zu stärken.
Jesse Shapins (32) ist Mitgründer des Projekts und der Galerie Stadtblind. Die Gruppe geht von dem Ausspruch „Zu oft wird Berlin blind betrachtet“ aus. Ihr Ziel ist es, die Besonderheiten Berlins zu enthüllen. Im Internet unter www.stadtblind.org