drostes weihnachtsbotschaft : Dies Gefühl heißt Bielefeld
Einmal im Jahr bin ich in Bielefeld, und wenn ich im dortigen „Kamp“ auftrete, weiß ich, dass bald Weihnachten ist. Das ist seit Jahren so, oft endet die Lesereise oder Konzerttournee sogar in Bielefeld. Zum Abschluss gibt es dann ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel mit den Jazzmusikern vom Spardosen-Terzett, und vorher einen Bummel durch die Stadt, in der ich von der fünften bis zur dreizehnten Klasse zur Schule ging und 16 Monate Zivildienst absolvierte.
Bielefeld ist für viele Menschen, ähnlich wie beispielsweise Hannover, ein Synonym für Mittelmäßigkeit. Die ortsansässige Sozialdemokratie hat in den Sechziger- bis Achtzigerjahren ja auch eindrucksvoll gezeigt, dass Städtebau und öffentliche Architektur in ihren Augen nur andere Worte für Strafe sind. Das „Kamp“ aber mit seinen 250 Plätzen ist ein Auftrittsort, an dem ich hänge – hier sah ich, mit 15, das erste richtige Konzert meines Lebens. Grobschnitt spielten und sangen „Take your car / Go to Africa / To the Sahara / To see Ali Baba“. Trockeneisnebel waberte, die Luft war haschischgeschwängert, und dann gab es eine Sensation: den ersten Zungenkuss meines Lebens. Er war magisch.
Auch in diesem Jahr ging ich sieben Tage vor Heiligabend in Bielefeld auf Schlür, lief die Bahnhofstraße hinab, überquerte den Kesselbrink, betrat die Niedernstraße und stand vor einem Laden, den ich schon als Heranwachsender mit gemischten Gefühlen betrachtet hatte: Feinkost Klötzer. Ich esse und trinke leidenschaftlich gern, und bei Klötzer gibt es fraglos jede Menge Köstlichkeiten. Doch immer schon stieß mich der Großteil der Kundschaft ab – Menschen, die ihr Leben dem Irrtum widmen, eine gut gefüllte Brieftasche verleihe ihnen den Status des Bessermenschen, der ein Anrecht auf Privilegien und auf Rundumvollbedienung habe.
Es gibt diese Leute, die ihr Leben quasi in Dünkelhaft verbringen. Hochnäsig stolzieren sie umher und schikanieren Verkäuferinnen und Verkäufer, behandeln sie von oben herab, und jener Teil der Kunden, der sich auf gute Nahrung freut, ohne sich deshalb für einen ganz dollen Hecht zu halten, wird, mit Grimm im Herzen, Augen- und Ohrenzeuge der Qual.
Um ein paar Vorspeisen einzukaufen, betrat ich Feinkost Klötzer. Innen weihnachtete es sehr, in der Luft war zu viel Parfum und noch mehr Gemeinheit. Eine ältere Schnepfe im Pelzmantel malträtierte einen jungen Mann hinter der Verkaufstheke, begehrte in schneidendem Ton dies und das, probierte mäkelig, vollführte abschätzige Handbewegungen und hielt den ganzen Laden auf. Sie gehörte ganz offenkundig zu den unglücklichen Menschen, die nichts mit ihrem Leben anzufangen wissen und ihre Zeit damit verbringen, anderen lästig zu fallen.
Die bepelzte Schnatze teufelte auf den Verkäufer ein, er solle den Schinken aber sowas von „hauchdünn“ schneiden. Das Wort „hauchdünn“ sprach sie affektiert aus, „haaauchdünn“, und wiederholte es immerzu: „also haaauchdünn, ja, haaauchdünn.“ Der junge Mann versicherte ihr, er schneide den Schinken so dünn es nur gehe und hielt ihr zum visuellen Beweise eine Scheibe hin. Man konnte fast hindurch gucken, aber die Schreckensgestalt kannte kein Einsehen und litanierte weiter: „Der Schinken ist für meinen Mann, und er will ihn haaauchdünn, also wirklich haaauchdünn.“
Der Laden und die Ohren der Anwesenden waren mit „haaauchdünn“ bis zum Platzen gefüllt, doch sie gab nicht Ruhe und haaauchdünnte weiter auf den geplagten Verkäufer ein. Als sie zum neunten oder zwölften Male ihren „Haaauchdünn“-Gesang anstimmte, konnte ich nicht mehr, trat näher und sprach sie leise, aber vernehmlich an: „Den Schinken braucht Ihr Mann sicher als Kondom, oder?“ Ihr Gesicht verlor die Fassung, sie suchte nach Worten, fand keine, blieb stumm, und gut war.
Mit einer kleinen Vorspeisentüte in der Hand verließ ich wenig später den Laden. Tausende Bielefelderinnen und Bielefelder waren auf den Straßen, in den Augen diese einzigartige Mischung aus völliger Erschöpfung und Hysterie, die man Weihnachtszeit nennt. Alle mussten noch ganz dringend irgendwo hin. Mir gingen die Verse von Udo Lindenberg durch den Kopf, die Bielefeld unsterblich gemacht haben: „Sehn wir uns nicht auf dieser Welt / Dann sehn wir uns in Bielefeld.“ Gut gesagt, sicher, aber auch ein Fluch – wann immer man gefragt wird, wo man herkommt und „Bielefeld“ antwortet, bekommt man todsicher diesen Spruch gesagt.
Ich fand, dass es Zeit war für ein paar neue Bielefeld-Zweizeiler. Zur Sicherheit schrieb ich sie gleich auf:
Was vielen Menschen nie gefällt
Heißt nicht selten: Bielefeld.
Wo verdient ein Mann sein Geld?
Ungern nur in Bielefeld.
Frauen, dauerwurstgewellt,
Gibt es, auch in Bielefeld.
Wer nirgends sonst die Zeche prellt
Tut es wohl in Bielefeld.
Nicht abgeholt, obwohl bestellt:
Dies Gefühl heißt Bielefeld.
Noch am selben Abend schenkte ich Bielefeld diese Verse, und dann machte ich, dass ich fortkam. WIGLAF DROSTE