dokumentation : Ver.di an Sarrazin
Offener Brief
Der Ver.di-Landesverband antwortet mit einem offenen Brief auf das taz-Interview mit Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) vom 18. 7. 03. Die taz dokumentiert in Auszügen:
Sehr geehrter Herr Sarrazin,
Ihre Aussagen im o. g. Interview vermitteln den Eindruck, als wäre das pädagogische Personal in den Kindertagesstätten verantwortlich für Bildungsdefizite der Kinder. Diese Einschätzung Ihrerseits empört unsere Mitglieder und ver.di verwahrt sich gegen diese Verdrehung der Tatsachen.
Sie sprechen davon, dass es in Berlin eine Überausstattung gibt, nirgendwo sonst in der Bundesrepublik gäbe es eine bessere. Wenn Sie damit die Personalmittel meinen, klären wir Sie gerne über die Fakten auf. Im Hortbereich z. B. finanzieren folgende Bundesländer einen besseren Personalschlüssel als Berlin: Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Saarland. […]
Sie sprechen davon, dass Berlin mit 13 Prozent einen geringeren Ausländeranteil hat als Frankfurt am Main, Stuttgart, Wuppertal und sogar Bonn. Die Wirklichkeit in den Berliner Kindertagesstätten ist von 13 Prozent weit entfernt. […] Die Sprachstandserhebung „Bärenstark“ hat im Januar 2003 künftige Erstklässler geprüft und festgestellt, dass von insgesamt 26.720 Kindern 30,9 Prozent nichtdeutscher Herkunft sind.
Sie sprechen davon, dass die Berliner Arbeitslosenzahlen auch keine besondere Situation darstellen. Es überrascht uns nicht, dass Sie hier nicht wie so oft Hamburg als Vergleich nennen. Die Senatsverwaltung für Soziales nennt in ihrem Bericht „Armut und soziale Ungleichheit in Berlin“ aus dem Jahre 2002 für Hamburg 8,2, für Berlin beinahe doppelt so viel, nämlich 15,7 Prozent.
Sie sprechen davon, dass in Berliner Kindertagesstätten zu wenig vorgelesen wird. Tatsache ist, dass neben dem Vorlesen viele andere gleichberechtigte und für die Selbstbildung der Kinder erforderliche Aktivitäten durchgeführt werden. […] Die sprachliche Kompetenz entwickelt sich nicht durch Zuhören allein, sondern muss auch praktisch erprobt werden können. […]
Sie sprechen leider nicht davon, welche verantwortungsvolle Arbeit Tag für Tag in den Kindertagesstätten geleistet wird. Liegt das daran, dass Sie noch keine Gelegenheit hatten, Kitaalltag zu erleben? Wir laden Sie herzlich zu einem Besuch in eine oder mehrere Kindertagesstätten ein. Bringen Sie doch Grimms Märchen mit, dann können Sie den von Ihnen ausgemachten Mangel gleich beheben.
Mit freundlichen Grüßen Werner Roepke (Landesbezirksfachbereichsleiter), Heidrun Westkemper (Landesbezirksfachbereichssekretärin)