die wahrheit: Britannien hat kein Talent
Allerorten sucht man den Superstar. Schaltet man den Fernseher ein, wird man mit grauenhaften Darbietungen von Leuten gequält...
A llerorten sucht man den Superstar. Schaltet man den Fernseher ein, wird man mit grauenhaften Darbietungen von Leuten gequält, die danach zu Recht wieder in der Versenkung verschwinden. Nur die Briten machen es wie immer anders. Sie suchen den Anti-Superstar.
Ein Simon Cowell von Sony hat die Show "Britains got talent" dem unabhängigen Sender ITV angedreht. Er überredete Piers Morgan, den früheren Chefredakteur des Schmuddelblattes News of the World, als Preisrichter mitzumachen. Man werde die britische Whitney Houston entdecken, versprach Cowell. Als dann ein knapp zwei Meter großer Transvestit einen Zwerg in einer Holzkiste über die Bühne zog, beschwerte sich Morgan bei Cowell: "Das ist anders, als du es mir angekündigt hast."
Das war ein typisch britisches Understatement. Nach dem Transvestiten kamen singende Hunde, rappende Omas, steppende Greise, ein Mann mit 145 Wäscheklammern im Gesicht und ein Buchhalter aus Birmingham, der weder singen, noch tanzen konnte und statt dessen auf der Bühne herumkullerte. "Ja, so sind wir", jubelte der Daily Telegraph. "Nachdem uns Thatcher und Blair jahrzehntelang eingeredet haben, dass wir anders seien, hat diese Talentshow die sieben Säulen der britischen Identität wieder aufgestellt." Ob einer Talent habe, spiele keine Rolle. "Tschüss, cooles Britannien. Wir sind immer noch eine Nation von fröhlichen Exzentrikern, denen alles andere schnuppe ist."
Einige nahmen nur teil, weil ihre Mütter sie heimlich angemeldet hatten. Der 80-jährige Stepptänzer vielleicht? Oder doch die sechsjährige Connie Talbot, die "Somewhere Over the Rainbow" sang, oder die elfjährige Bessie Cursons, die mit einem Volkslied auftrat? Vorsichtshalber warf man den Stimmenimitator Richard Bates vorher hinaus, weil er wegen Kindesmissbrauchs eingesessen hatte.
Höhepunkt war eine Gruppe von älteren Herren in Ballettröckchen auf Einrädern. Cowell bescheinigte ihnen, dass er noch nie so etwas Schlechtes gesehen habe. Die Balletröckchenträger waren hoch erfreut. "Unsere Vorliebe für das Versagen lauert immer noch unter unserer neumodischen Besessenheit mit pseudo-amerikanischem Erfolg", befand der Telegraph. Stimmt: Die Show lockte zehn Millionen Zuschauer vor den Bildschirm.
Im Finale vor acht Tagen gewann der Waliser Paul Potts mit Opernarien. Jetzt darf er vor der Queen bei der Royal Variety Show singen, er hat einen Scheck über 100.000 Pfund und einen Plattenvertrag in der Tasche. Der 36-jährige Handy-Verkäufer träumte von der Oper, seit er vor acht Jahren - als Pavarotti verkleidet - an einem Karaoke-Wettbewerb teilnahm und Letzter wurde. Der Mann sei eigentlich der geborene Verlierer, stellte der Telegraph anerkennend fest: Nachdem er 20.000 Pfund ausgegeben hatte, um Gesangsunterricht zu nehmen, musste er sich den Blinddarm herausnehmen lassen. Dabei entdeckten die Ärzte einen Tumor. Kaum war er von der Operation genesen, brach er sich das Schlüsselbein. Insgesamt verbrachte er zwei Jahre im Bett.
Der Guardian entgegnete empört, dass Potts gar kein Loser sei: Er saß jahrelang für die Liberalen Demokraten im Stadtrat. Wo ist da der Widerspruch?
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