die wahrheit: Tante Martha kehrt heim
Gestern hatte Tante Martha Geburtstag. Tante Martha hat die Achtzig mittlerweile überschritten, erfreut sich aber recht guter Gesundheit und ist auch noch sehr mobil...
Gestern hatte Tante Martha Geburtstag. Tante Martha hat die Achtzig mittlerweile überschritten, erfreut sich aber recht guter Gesundheit und ist auch noch sehr mobil. Nur Ausflüge über die Stadtgrenzen hinaus sind rar geworden. Das ist schade, denn Tante Martha hegt sentimentale Erinnerungen an ein kleines Dorf auf dem Land, wo sie in jungen Jahren oft meinen Urgroßvater und andere Verwandte besuchte. Nicht selten erwähnte sie ihren Wunsch, alles noch einmal anzuschauen und ihre Erinnerungen aufzufrischen. Meine Cousine Anna, die ebenso reges Interesse für die Familiengeschichte zeigt wie Martha, hatte mich rasch überzeugt. Das ideale Geburtstagsgeschenk sei eine Einladung zur Landpartie, auf den Spuren unserer Vorfahren.
Mit der Tante im Auto machten wir uns gestern auf den Weg. Während wir uns unserem Ziel näherten, machten sich erste Zweifel breit. "Ob wir Urgroßvaters Haus wohl finden? Es stand immer eine Ziege im Fenster!", grübelte Tante Martha. Eine Ziege? Leibhaftig? Ausgestopft? Zur Nachfrage blieb keine Zeit, denn Anna hatte den Wagen gestoppt und verkündete: "Hier ist es!"
Tante Martha blieb skeptisch: "Das Fenster, wo die Ziege stand, ist zugemauert. Ich glaube, das ist die falsche Straße, die Bahn war nicht so nah!" Das Gleisbett machte auf mich keinen so verschlagenen Eindruck, als dass ich ihm eine heimtückische nächtliche Verlagerung zugetraut hätte. Die Ziege indes hatte mein vollstes Verständnis. Einen solch ungastlichen Ort, wo einem der Ausblick vermauert wird, hätte auch ich verlassen.
Wenig später untersuchten wir ein weiteres Haus. "Da hat eine Frau aus dem Fenster geguckt. Ich weiß nicht, ob das Anni ist. Die lebt hier noch, glaube ich. Vielleicht hat sie uns erkannt und will jetzt die Nachbarn rufen und uns zum Essen einladen." Ein Blick in das Gesicht der Vielleicht-Anni-Frau verriet mir, dass sie weit eher geneigt war, die Polizei als die Nachbarn zu rufen. Ich drängte zur Weiterfahrt.
Wir fuhren zu einem Restaurant, das Tante Martha von gemeinsamen Besuchen mit meinem Urgroßvater zu kennen glaubte. Zumindest den Toilettentrakt, an den würde sie sich erinnern, da war sie ganz sicher. Bei dem Versuch verirrte sie sich allerdings und wäre um ein Haar von dem aufdringlichen Reiseleiter einer Kaffeefahrt in seinen Bus genötigt worden.
Der letzte Besuch galt dem Hof von Luise und Wulf, der gegenüber vom Sportplatz liegen sollte. Es stellte sich heraus, dass der Sportplatz ein Schwimmbad war und sich auf der anderen Straßenseite ein Neubauhaus befand. " Das ist jetzt natürlich schwer zu sagen", rätselte Tante Martha. "Die Straße war in meiner Erinnerung auch breiter, und auf das Haus zu ging eine Allee. Vorn am Eingang haben sie ihren Milchhandel gehabt." - "Milch?", antwortete Anna, "ich dachte, die hätten nur Eier verkauft." - "Du meinst wohl Lisa und Werner, aber wo die wohnten, weiß ich auch nicht mehr." Seltsam zufrieden mit diesem Ergebnis traten wir die Heimfahrt an.
Fenster, Ziegen, Häuser, Schwimmbäder, Toiletten und Bahnstrecken haben jetzt genau ein Jahr Zeit, ihre angestammten und vertrauten Positionen wieder einzunehmen. Dann kommen wir wieder.
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