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die wahrheitGottes Nachlassverwalter

Kommentar von Uli Hannemannn

Die aktuelle Wahrheit-Kritik: Ben Becker liest aus den "Gelben Seiten".

"Abendkleiderverleih" nuschelt, hechelt und fiepst der Wiedergänger. Bild: ap

Bereits die Ouvertüre ist schlicht genial. In einem karierten Nilpferdkostüm, auf dem eine imposante Kaiserkrone thront, stolpert Ben Becker, 42, hinter einem Vorhang aus gequirlter Scheiße majestätisch hervor auf die drei Quadratkilometer große Bühne. Das Maifeld erbebt unter den Klängen von 7.000 Paukern und Trompetern. Zu "Also sprach Zarathustra" lässt sich der rothaarige Mime eine halbe Stunde lang von den 200.000 Glücklichen, die eines der 500 Euro billigen Tickets ergattern konnten, unbewegt bejubeln als sei er Gottes Nachlassverwalter. Noch in den Applaus hinein spricht er nur ein einziges heiseres Wort: "Aalräuchereien".

Das Auditorium ist außer sich. Die schneidende Beiläufigkeit des wie unabsichtlich lieblos Geleierten bringt die Menge zum Kochen. Kann man die fast schon arrogant zu nennende Signifikanz des Unprätentiösen, das dadurch selbstironisch gebrochen quasi überprätentiös erstrahlt, noch toppen?

Für Becker ein Kinderspiel: "Abbrucharbeiten", mault, orgelt und stottert er wie ein tollwütiger Hamster, dem ein betrunkener Säugling das Sprechen beigebracht hat. Die an dieser Stelle mit Spannung erwarteten "Abbeizarbeiten" lässt er elegant links liegen - den gedanklichen Brückenschluss traut und mutet er einem überwiegend intellektuellen Publikum durchaus zu. Solch Mut zur Lücke hätte fürchterlich schief gehen können, doch das kühne Kalkül wird belohnt: Szenenapplaus und stehende Ovationen; Weinkrämpfe der Begeisterung. Hätte es noch eines finalen Beweises bedurft, wie genial Rothaarige sind, hier liegt er bretterdick auf der Hand. Gewiss, Rothaarige sind auch schwierig und neigen zu unkontrollierten Zornesausbrüchen. Erst zwei Tage vor der heutigen Premiere von "Die Gelben Seiten - eine gelallte Aversion" hat der fuchsfarbene Flegel unter dem Einfluss heroingetränkter Gummibärchen mit einem gestohlenen Reisebus mal wieder tausend Leute totgefahren, doch die lässlichen Ausrutscher verzeiht man dem sensiblen Schauspieler gerne. Zu groß sind die Verdienste des nüchtern recht einsilbigen Edelrüpels.

Über zehn Jahre hat er diesen Auftritt vorbereitet. Auf atemberaubende Art gelingt es ihm, das Branchenverzeichnis komplett neu zu interpretieren, indem er die Originalvorlage so behutsam entkernt, dass die Grundaussage nicht nur stehen bleibt, sondern an Gehalt und Dramatik sogar entschieden zugewinnt. Das Meisterwerk des famosen Feuerkopfes ist der eindeutige Höhepunkt eines Zyklus, der mit einer fulminanten Unterwasserlesung des Korans begann und über BGB, Kursbuch der Deutschen Bahn AG und die Gebrauchanweisung für den Allzweckgemüseraspler "Möhrillo" von Miele fortgesetzt wurde.

Auf einer bombastischen Videoleinwand wechseln sich Einspielungen aus der Schlacht um Flandern mit solchen aus Kindergeburtstagen ab. Die Botschaft ist eindeutig: "Seht alle her." Ebendieser Satz bleibt auch stets rechts oben eingeblendet. "Abendkleiderverleih" nuschelt, hechelt und fiepst der Wiedergänger Juhnkes, Goebbels und Hasselhoffs in den bleischwarzen Nachthimmel über der Naziarena. Wie ein in Stein gemeißeltes mächtiges Monument entfaltet das Kompositum aus der Pole Position des Alphabets seine Wirkung in Zeit und Raum.

Frühes sinnliches Highlight ist jedoch ohne Zweifel der rührend unbeholfene Tanz dreier nackter Greise zum morbid geraunten Stichwort "Bestattungsinstitute". Auf eine herrische Handbewegung Beckers hin werfen sich die Alten zu Boden und rühren sich für den Rest der 172 Stunden dauernden Show nicht mehr. In diesem bewegenden Moment wird es still im Publikum - nur vereinzelte Schluchzer sind zu hören.

Doch der mürblaunige Möhrenschopf versteht meisterlich auf der Gefühlsklaviatur seines Publikums zu spielen - eben noch B-Moll und gleich darauf schon wieder B-Dur: Die Tränen sind noch nicht getrocknet, da schickt Becker zu "Bestecke und Tafelsilber" die Clowns auf die Rampe, exakt 777 an der Zahl, in Erinnerung an die Getränkerechnung seines Stiefvaters. Heißa, da schallt Gelächter durch die Achterbahn der Emotionen!

Am Ende kommen, bei aller Erwartbarkeit auf einmal doch überraschend, die "Zylinderstifte". Nur zwei Einträge gibt es - dazu brennt in der Bühnenmitte einsam eine rote Kerze. Verzichtbarkeit symbolisiert das, ebenso wie Vergänglichkeit. Wäre Genialität essbar, wären wir alle längst geplatzt. Der charismatische Kupferkessel verbeugt sich schweißüberströmt - selbst für ein Lächeln zeigt er sich zu erschöpft. Nicht enden wollender Beifall brandet auf. ULI HANNEMANNN

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