die wahrheit: 60 tage auf tour
Abgekämpft vom Auftritt am Vorabend sitzen wir beim Frühstück im Schlosshotel Wilhelmshöhe. Ein wunderbar weitläufiges und großzügig angelegtes Haus...
Abgekämpft vom Auftritt am Vorabend sitzen wir beim Frühstück im Schlosshotel Wilhelmshöhe. Ein wunderbar weitläufiges und großzügig angelegtes Haus mit dem Charme und Chic der Fünfzigerjahre. In der Lobby schwingt sich eine breite Treppe mit nierenrunden Schmiedearbeiten auf in die Beletage, und riesige Panoramafenster eröffnen den Blick hinaus auf den erstaunlich grünen Park.
Jeden Moment müsste Vico Torriani die Treppe herunterschweben, um eine bunte Revue anzukündigen. Oder Elisabeth Flickenschildt bricht durchs Unterholz, noch mit dem Dolch im Rücken aus dem letzten Edgar-Wallace-Film.
"Und jetzt eine 60-Tage-Tour", sagt plötzlich einer der zehn, die gestern Abend noch auf der Bühne brillierten und sich nun in den Korbstühlen fläzen. Eigentlich keine schlechte Idee nach dem großartigen Auftritt: Das Haus war voll, vierzig Leute ohne Karten mussten sogar weggeschickt werden. Die einzelnen Vorträge waren wunderbar, und das Publikum ging glänzend mit. Überhaupt war alles perfekt. Aber muss es da gleich eine 60-Tage-Tour sein?
Jeden Abend eine Schlachteplatte samt Schweinebraten im Dialog mit Sauerkraut auf einem Hauch von Hügel Erdapfelpüree? Jeden Abend gefühlte 300 Biere plus "alte Pflaume"? Jeden Abend den Kellnerinnen Sonja und Martha anbieten, dass sie die Gagen haben können, wenn sie sich nur endlich zu uns an den Tisch setzen?
Jeden Abend die Plakate für die Tanzveranstaltungen der regionalen Jugend studieren und auf wundersame Partys stoßen wie das "Arschwackeln gegen rechts"? Jeden Abend in klassischer Manier am Tisch einschlafen, mit dem linken Arm als Kissen, mit der rechten Hand tapfer das Bierglas umklammern und selbst in zwei verschnarchten Stunden nicht einen Milliliter verschütten?
All das können wir. Dann schaffen wir auch eine 60-Tage-Tour zu zehnt. Irgendwann werden wir dann Rockstars sein, mit Sex & Drugs & Rock n Roll - die ganze Nummer. Wir werden mit Privatjets durch die Weltgeschichte gondeln, schnuckelige Groupies abschleppen und jede erdenkliche Droge ausprobieren. Wir werden auf die Bühne geworfene Schlüpfer sammeln, Hotelzimmer verwüsten und Fernsehgeräte aus dem Fenster werfen, genauso wie es der Altrocker Marcel Reich-Ranicki auf seinen Lesetouren zu tun pflegt.
Nein! Halt! Stopp! Ich möchte doch kein Rockstar sein! Dann muss ich auch nicht den Karriereknick erleben, wenn die Polizei mich nach der Drogenrazzia in Handschellen durchs Blitzlichtgewitter führt. Mit einem Mal stellt sich heraus, dass sämtliche Verträge faul sind und unser Manager das Geld längst durchgebracht hat.
Schließlich bringe ich die Kraft nicht mehr auf, wieder bei null anzufangen und lande auf dem zugigen Vorplatz des Bahnhofs Kassel-Wilhelmshöhe, wo ich von da an jeden Tag stehe und Cola Zero trinke - die letzte mir verbliebene Sucht. Ich bin zum Cola-Zero-Junkie geworden, der Passanten anpöbelt, weil sie mich, den Superstar, nicht erkennen …
Dann möchte ich doch lieber für immer im Schlosshotel Wilhelmshöhe bleiben und mit Vico Torriani, Elisabeth Flickenschildt und Marcel Reich-Ranicki einen geruhsamen Lebensabend beim Bridge-Spielen verbringen.
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