piwik no script img

die wahrheitSchreie in der Nacht

Mauerfallrückzieher auf dem mitreißenden "X-Scream" in Las Vegas

Die Achterbahn im Himmel über Las Vegas war zwar abgebaut, aber dafür gab es den "X-Scream" Bild: dpa

Lass uns mal was völlig Verrücktes tun", erklärte ich meiner künftigen Braut. "Was denn? ZDF gucken? Bei Aldi einkaufen? Blümchensex haben?", spottete sie mit gewohnt spitzer Zunge. Ein Mann am Nebentisch in einem Lokal hatte ihr mal eine "höllisch spitze Zunge" attestiert, womit ich sie gern aufzog. "Nein, lass uns heiraten", sagte ich. "Und wie komme ich zu der Ehre?", fragte sie. "Wie wäre es denn mit Las Vegas?", lenkte ich eilig ab. "Las Vegas?", wunderte sie sich. "Einmal mit der Achterbahn auf dem Stratosphere Tower fahren", sagte ich, und sie warf ein Kissen nach mir. Denn sie wusste sofort, worauf ich anspielte. In den ersten Sekunden des Vorspanns von "CSI Las Vegas" war die Achterbahn auf dem höchsten Turm der Stadt zu sehen, und jedes Mal sagte ich: "Da müsste man auch mal drauf." - "Na denn!", stimmte sie meinem Heiratsantrag zu.

Als vorteilhaft erwies es sich, dass der Neffe aus Goslar seine amerikanische Freundin nahe Seattle heiraten wollte, und so packten wir die beiden frisch Vermählten nach ihrer Hochzeit in ein Flugzeug nach Las Vegas. Die beiden wurden unsere Trauzeugen in der "Little Church of the West" am Strip, in der auch schon Angelina Jolie, Richard Gere und Zsa Zsa Gabor geheiratet hatten - ob bei ihrer dritten oder fünften Hochzeit, konnte der Fotograf nicht mehr sagen, gelangweilt nuschelte er den alten Spruch herunter: Las-Vegas-Ehen sind die kürzesten.

Wir wohnten im MGM Grand, dem drittgrößten Hotel der Welt, sahen uns eine Show des unvermeidlichen Cirque du Soleil an, erledigten mit dem Besuch am Hoover-Staudamm und am Grand Canyon unsere Flitterwochenpflichten, kehrten nach Las Vegas zurück und endlich im Stratosphere Tower Hotel ein. Der Stratosphere Tower ist mit rund 350 Meter Höhe das höchste Gebäude westlich des Mississippi, und auf einer Plattform in circa 260 Meter Höhe sind mehrere "Roller Coaster" installiert - zum Beispiel die Achterbahn, die für die erste Enttäuschung des Abends sorgte. Der "High Roller" war seit vier Jahren abgebaut. Offenbar hatte sich niemand getraut, rasend schnelle Runden um die Turmspitze zu drehen.

Die zweite Enttäuschung folgte sogleich. Denn unten vor den Aufzügen winkte das Personal gleich ab: Heute wäre es zu windig oben auf dem "Strat", alle Fahrgeschäfte seien aus Sicherheitsgründen außer Betrieb. Wir fuhren dennoch hinauf und besahen uns nicht nur die Stadt von oben, sondern auch die drei verbliebenen Attraktionen: der "Big Shot" für den freien Fall, das Kettenkarussel "Insanity - The Ride" über dem Abgrund und das "X-Scream", eine gigantische Wippe, auf der ein Wagen über den Rand der Plattform hinauskatapultiert wird, wo er dann sekundenlang zwischen Himmel und Erde hängt. Das simple Wortspiel steht genau für das, was einen erwartet: Wenn der "X-Scream" loslegt, schreist du extrem. Das wollte ich erleben. Denn jetzt verbreitete sich auf der Aussichtsplattform die Nachricht, dass der Wind nachgelassen hatte und alle Fahrgeschäfte wieder in Betrieb genommen würden.

Die dritte Enttäuschung war dann auch keine mehr. Meine Gattin wollte nicht mit auf den "X-Scream". Auch gut. Denn was gibt es Schöneres, als von seiner Frau vom Rande aus für Tapferkeit bewundert zu werden? Die amerikanische Nichte allerdings ließ sich sofort überreden, auch wenn wir überraschenderweise die Einzigen waren, die nun im "X-Scream" Platz nahmen.

Brüllend laut setzte Musik ein: "White Wedding". Billy Idol sang: "Its a nice day for a white wedding / Its a nice day to start again." Das waren die frühen Achtziger, verdammt gute Zeit, schoss es mir in den Kopf, als der Schlitten des "X-Scream" sich in Bewegung setzte. Meine zweite Pubertät. Drei Tage in einer Schokoladenfabrik arbeiten, zwei Tage studieren, und am Wochenende abtauchen ins "Risiko" oder sonst wo im Underground. Mein Leben raste an mir vorbei, während die Lichter vor dem dunklen Erdengrund grell blinkten. Der "X-Scream" kippte über die Kante und stoppte. Unter mir lag der nächtliche Strip. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich seit dem Start aus vollem Hals schrie.

Die gierigen und verschwenderischen Achtzigerjahre waren voller Abenteuer - und dann fiel die Mauer. Das abgründige Leben in Westberlin hatte ein Ende. Hinterwäldler aus allen Teilen des Landes fielen in meine freie Stadt ein. Als Erstes schikanierte mich die Bundeswehr, die mich sechsmal zu Musterungen vorlud, obwohl ich bereits viel zu alt war für den Verein, vor dem ich einst geflohen war. Als Westberliner Bundeswehrflüchtling musste ich mir nun in einer verrotteten NVA-Kaserne von einem Militärarzt, der wahrscheinlich bereits in der Wehrmacht gedient hatte, zwischen die gespreizten Backen gucken lassen.

Fünfzig Sekunden dauert der Ritt auf dem "X-Scream", zwei Mal wird man in die Nacht hinausgeschleudert. Und beim zweiten Anlauf erinnerte ich mich an einen ähnlich heftigen Kick: vor genau zwanzig Jahren beim Mauerfall, als ich mitten in Berlin, in der Potsdamer Straße, lebte. Es war ein atemberaubendes Gefühl, am 9. November 1989 im Zentrum des Weltgeschehens zu sein. Kurz darauf konnte auch ich wieder durch die Welt reisen, nachdem mich die Bundeswehr als untauglich aus ihren Fängen entlassen hatte. Und heute war ich auf dem "X-Scream" in Las Vegas. Womöglich war der Mauerfall doch nicht so schlecht, wenn er zumindest dafür gut war. "Its a nice day to start again …"

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!