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die wahrheitIm Jahr des Tigers

Chinesen am Strand.

Letztens hatte ich einmal mehr Gelegenheit zu beobachten, was meine chinesischen Mitbürger am Strand so alles machen: Sie sitzen herum und rauchen, sie posieren vor den Wellen und fotografieren sich gegenseitig, sie füllen Meerwasser in Flaschen, um es als Andenken mit nach Hause zu nehmen, sie fangen mit Käschern kleine Fische für ihr Goldfischglas, oder suchen nach Muscheln, um sie später zu verzehren. Und die Männer lassen sich dann und wann einbuddeln, damit man ihnen mit Sand Frauenbrüste machen kann.

Selbstverständlich essen meine Mitbürger auch am Strand, schließlich sind sie Chinesen: Wassermelonen, Fleischspieße, gegrillten Tintenfisch, getrockneten Tofu, und sie trinken dazu, meistens Bier, auch in der prallen Sonne. Noch Wagemutigere haben sogar einen Badeanzug an oder eine Badehose. Damit stehen sie im Wasser, bespritzen sich mit Wasserpistolen und -bazookas, sie tragen ihre Frauen auf dem Rücken durch die Wellen oder fahren mit Tretbooten bis zur Absperrung, die dreißig Meter von der Küstenlinien entfernt ist. Und ungefähr zweistündlich wird ein so lautes Feuerwerk abgebrannt, dass man glaubt, man stünde während eines Atombombentests am Strand des Bikini-Atolls und könnte gleich durch seinen Nachbarn durchkucken.

Nur eins tun die Chinesen nicht am Strand, jedenfalls die allermeisten, und das ist: schwimmen! Sie tun es nicht, weil sie es nicht können. Und so gehen erwachsene Frauen mit einem Schwimmreifen um die Hüften ganz vorsichtig ein paar Zentimeter ins Wasser. Und am ganzen Körper tätowierte, muskulöse Männer stehen mit Schwimmflügeln an den Oberarmen stundenlang im Flachen rum. In Europa würde man sich als Erwachsener für eine solche Aufmachung zu Tode schämen, in China schämt sich keiner, weil Schwimmenkönnen hier nicht üblich ist. Das war mir schon in meinem Pekinger Lieblingsfreibad aufgefallen, dessen Becken an der tiefsten Stelle nur 1,50 Meter misst. So kann hier jeder im Wasser entspannt rumstehen.

Natürlich fragt man sich, warum fast kein Chinese schwimmt. Oder besser: Seit wann? Als Mao Tsetung am 16. Juli 1966 überraschend in der Industriestadt Wuhan auftauchte, um als 72-Jähriger über eine Stunde im ziemlich schnell fließenden Jangtse zu schwimmen, sprangen mit ihm Tausende in den Fluss. In Filmen wie zum Beispiel der Dokumentation "Morning Sun" kann man sehen, dass diese Menschen nicht nur ausgezeichnet schwammen, sondern dabei auch noch meterhohe Banner trugen. Zudem wird in dem Film berichtet, dass nach Maos Badeausflug praktisch allen Kindern Chinas Schwimmen beigebracht wurde. Was wurde aus diesen Kindern, die heute Mitte fünfzig sein müssen? Hat man ihnen nach Maos Tod das Schwimmen wieder abtrainiert? Wurde nach der Öffnung Chinas das Schwimmen als kulturrevolutionärer Unfug geächtet?

Ich, der ich auf fast jede chinesische Frage eine patente Antwort weiß, muss gestehen: Ich habe keine Ahnung. Vielleicht fragen Sie in diesem Fall mal ihren behandelnden Sinologen.

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1 Kommentar

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  • WS
    Wang Siu Ying

    Der Chinese gilt ja, abgesehen von kleineren Meinungsverschiedenheiten während des sog. »Boxeraufstands«, als traditionell deutschfreundlich und zitiert in allen Lebenslagen, z.B. bei Exekutionen oder Kulturrevolutionen, mit Vorliebe Goethe. Deshalb hat er auch Goethes negative Erfahrungen mit dem Schwimmen verinnerlicht. Das Baden in kalten Gewässern, und zwar auch das Nacktbaden, praktizierte der Geheimrat vor allem auf der ersten Schweizer Reise 1775 im Zürichsee, bis ihm die biederen Schweizer durch Steinwürfe klarmachten, dass sie diese Art der ungeschützten Wasser- und Sichtverschmutzung mit Lärmbegleitung nicht guthießen (Wilpert 2007).

     

    Andere Autoren heben hervor, dass in den großen fernöstlichen Kulturen mit einem vornehmlich beziehungshaften Selbstempfinden die soziale Harmonie fundamental sei. Wenn keiner vorschwimmt, schwimmen eben alle nicht (Lem-Ming 2001).

     

    Bei mänmnlichen Chinesen könnte auch Furcht vor genitaler Retraktion im ohnehin kalten Wasser eine Rolle spielen. Verbunden mit Todesangst ist das in Indonesien endemische Erleben genitaler Retraktion, »koro« (ähnlich »suo yang« in Südchina). Betroffene alarmieren Angehörige, Nachbarn etc., die den Penis vor völligem Verschwinden im Körper sichern sollen. Neben mechanischen Maßnahmen (Ziehen, Massieren) wird ein »Heiltrunk aus ›männlichen‹ Zutaten, die einen erigierten Penis symbolisieren (Hirschgeweih, Bambus, bestimmte Pflanzenstiele)«, verabreicht (E.Wohlfahrt, M. Zaumseil, Transkulturelle Psychiatrie, Springer, Heidelberg: 2006).

     

    Am Einleuchtendsten scheint jedoch zu sein, dass der Chinese im Wasser den Kopf krampfhaft über der Wasseroberfläche hält, weil er einen Gesichtsverlust befürchtet.

     

    Ni hao!