piwik no script img

die wahrheitErzengeltherapie

In einem weltabgewandten Außenbezirk bewohnten drei alte Damen ein Häuschen, das, wie eine von ihnen sich einmal auszudrücken beliebt hatte, ...

... aussah, "als ob es nicht bis drei zählen könnte". Ganz bestimmt nicht bis drei zählen konnte indes das Wesen, das seit Jahren in einem kleinen, abgedunkelten Parterrezimmer des Häuschens untergebracht war. Hilflos und bewegungsunfähig dahindämmernd, lag es immerfort im Bett; was in ihm vorging, mochte dem nahekommen, was etwa ein Hefeteig träumt, wenn er vor seiner Verarbeitung ins Dunkle gestellt wird und "ruht".

Die alten Damen hielten das Wesen am Leben, fütterten und säuberten es, sprachen zu ihm ohne realistische Hoffnung, im trüben Totenlicht seiner teigartig-formlosen Wahrnehmung jemals mehr sein zu können als vage Schatten und Laute. So wenig wie man wissen konnte, ob und in welchem Umfang es über Bewusstsein verfügte, so wenig eindeutig waren auch die genitalen Verhältnisse seines etwas larvenartigen, kindlich entwickelten Körpers beschaffen. Demzufolge wurde es von den alten Damen Dorli genannt, was sowohl Dorothea als auch Theodor heißen konnte, also "Gottesgabe" oder "Gottesgeschenk".

In ihrer grenzenlosen Fürsorglichkeit beschlossen die drei, trotz allem, was dagegen sprach, auch für die religiöse Unterweisung ihres Schützlings zu sorgen. Mehrere Stunden täglich saßen sie an Dorlis Bett, um ihm biblische Geschichten zu erzählen. Unbeirrbar hielten sie wider alle scheinbare Vernunft an ihrem Vorhaben fest, und wunderbarerweise trug schließlich ihre seltsame Beharrlichkeit Früchte. Es geschah, als zum ersten Mal von den Erzengeln die Rede war. Dorli zeigte eine Reaktion. Das sonst völlig teilnahmslose Gesicht verriet plötzlich eine nie zuvor beobachtete Aufmerksamkeit, weitere Anzeichen für spontanes Interesse waren unmissverständliche Laute der Erregung. Wiederholte Versuche bewiesen, dass es sich um keinen Zufall handelte, Dorli sprach eindeutig auf die Erzengel an. Bei anderen Themen ließ das Interesse bis zur Lethargie nach, um bei neuerlicher Erzengel-Erwähnung wieder lebhaft zu erwachen. Die alten Damen waren entzückt und sangen aus vollem Halse "Tochter Zion, fro-ho-ho-ho-hoie dich", um nach der Melodie von "Deutschland, Deutschland über alles" fortzufahren: "Alle Menschen werden Brüder für das deutsche Vaterland."

Es wurde nur noch von den Erzengeln erzählt, und Dorlis Mitteilungsfähigkeit nahm auf erstaunliche Weise zu. Es bekundete bald sehr bestimmt und nachdrücklich, alles über seine biblischen Lieblingsgestalten wissen zu wollen, versuchte sogar, sich ihre Namen einzuprägen, ohne sich indessen über ihre Anzahl klar zu sein. Zu zählen vermochte Dorli ja nicht, trotzdem gab es, vielleicht aus rein phonetischer Ursache, die richtige Quantität der Erzengelnamen wieder, allerdings lauteten diese wegen seines mangelhaften Begriffs- und Artikulationsvermögens statt Gabriel, Raphael, Uriel und Michael: Louie, Louie, Louie und Louie.

Die alten Damen riefen: "Ist es nicht herzig?"

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!