die wahrheit: Unterm Unglücksadler
Man spricht nicht gern darüber, zumindest nicht öffentlich, doch hinter vorgehaltener Hand wird immer wieder einmal darüber gemunkelt...
...dass ein Fluch auf dem Deutschen Bundestag liege - ein wahrhaft bösartiger Fluch, der das ja ohnehin schon herbe Los der Volksvertreter zusätzlich erschwere und ihnen jede Lebensfreude vergälle.
Der Beginn der Unglücksserie wird dem Vernehmen nach auf den Todestag des sozialdemokratischen Oppositionsführers Kurt Schumacher im August 1952 datiert. Danach kehrte für eine geraume Weile wieder Ruhe ein, und man dachte schon, die Sache sei nun ausgestanden, ein für allemal - doch dann ging es Schlag auf Schlag. Unerwartet, viel zu früh und ohne Angabe von Gründen verstarben nacheinander die altgedienten Parlamentarier Erich Ollenhauer (14. 12. 1963), Konrad Adenauer (19. 4. 1967) und Kurt-Georg Kiesinger (9. 3. 1988). Grund genug für die im Bundestag vertretenen Parteien, endlich eine Enquetekommission einzuberufen, die sich mit diesen Vorfällen beschäftigen sollte, und zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn man wollte niemanden unnötig beunruhigen.
Der Ursache kam man jedoch nicht auf die Spur, obwohl sich insgeheim auch ein Expertenteam von Unicef mit dieser Angelegenheit befasste. Bei einem stichprobenartigen Gesundheitscheck der Abgeordneten ergab sich verblüffenderweise eine durchschnittliche Lebenserwartung, die im jährlichen Mittel deutlich über den Normalwerten der europäischen Nachbarlandparlamentarier lag. Berücksichtigt wurden dabei auch Parameter wie Intelligenz, Motorik, Blutdruck, Puste, Libido, Gewicht und Fahrstil. Ja, es kam sogar zu einer Untersuchung des Paarungsverhaltens, wobei sich rasch erwies, dass die Probanden keine Anzeichen für Lebensmüdigkeit erkennen ließen.
Nachdem auch ein auf Betreiben der CSU hinzugezogener Exorzist die weitere Benutzung der Räumlichkeiten für unbedenklich erklärte, nahmen die Abgeordneten die Arbeit wieder auf. Das Augenmerk der Eingeweihten richtete sich in der Folgezeit gleichermaßen auf die aktiven wie auf die bereits ausgeschiedenen Abgeordneten, und siehe da - die Schicksalsschläge setzten alsbald wieder ein: Franz-Josef Strauß (3. 10. 1988), Hermann Höcherl (18. 5. 1989), Herbert Wehner (19. 1. 1990) …
In dieser kritischen Situation richteten die allmählich misstrauisch gewordenen Parlamentskorrespondenten eine Anfrage an den Ältestenrat, um zu eruieren, ob man hier wohl noch von "Zufall" reden könne oder ob sich ein fatales Muster wiederhole. Die gewundene Erwiderung enthielt nur Ausflüchte: Da hieß es beispielsweise, dass man für eine Beurteilung der Gesamtlage erst einmal die Mortalitätsziffern in ganz anderen Alterskohorten heranziehen müsse und so weiter. Unterdessen aber ging das Schicksal ungehindert seinen Gang: Willy Brandt (8. 10. 1992), Erich Mende (6. 5. 1998), Richard Stücklen (2. 5. 2002). Namen und Daten, die für sich selber sprechen.
Kein Geringerer als Wolfgang Mischnick, einer der vertrauenswürdigsten und wendigsten Veteranen der deutschen Parlamentsgeschichte, verwies in einer Wahlkampfbroschüre ausweichend darauf, dass nicht einmal die Abgeordneten aus der Ära der Paulskirche vor unliebsamen biografischen Einschnitten gefeit gewesen seien. Doch was hat ihm seine Eloquenz genützt? Ebenso wenig wie dem Parlamentspräsidenten a. D. Rainer Barzel, der es nicht für angezeigt hielt, der Affäre auf den Grund zu gehen. Es kam, wie es kommen musste: Wolfgang Mischnick (6. 10. 2002), Rainer Barzel (26. 8. 2006).
Die Bevölkerung, geblendet vom immer noch vitalen Erscheinungsbild der Altkanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl, tappt bis heute vollständig im Dunkeln, was den Fluch betrifft, der auf dem Bundestag zu lasten scheint.
Was aber hat das noch mit Demokratie zu tun?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“