die wahrheit: Denkfalten in der Denkfalle
Es gibt Wörter, sagte der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty, die kann man nicht erfinden, sondern muss sie in sich tragen...
...Dann stellt sich allerdings die schwierige Frage, wie die Innenausstattung eines Menschen aussieht, der zum Beispiel das Wort "Denkfalle" verwendet. Statt darüber mit wenig Aussichten auf eine befriedigende Antwort zu spekulieren, kann man auch die Konsistenz des Wortes prüfen und daraus die provisorische Antwort ableiten, aus was für Köpfen das Wort kommen könnte.
Das Wort "Denkfalle" machte eine schnelle Karriere im Schnellgedruckten. Was es bedeutet, verursacht nicht gerade Kopfschmerzen, aber auf jeden Fall tiefe Denkfalten. Meint das Wort, dass das Denken durch die Gegend spaziert und mal hier, mal dort Fallen aufstellt wie die Bärenjäger im Wilden Westen? Oder enthält das Denken selbst Fallen wie Räuberburgen von Dracula bis Ritter Blaubart notorisch Falltüren, um unschuldige Jungfrauen und alte Schurken zu fangen? Oder sind Denkfallen einfache Denkfehler wie die Verwechslung von Multiplikation mit Division oder Akkusativ und Dativ?
Dann wären schlechte Rechner und Schreiber, also die Mehrheit, Fallensteller, was nicht nur Mathematik- und Deutschlehrer bestreiten würden, sondern auch der gesunde Menschenverstand bezweifelt. Der weiß zumindest, dass Fehler auf bloßen Irrtümern beruhen, Fallenstellen aber auf hinterlistig-bösen Absichten. Jedes Kind kennt den moralisch stichhaltigen und folgenreichen Unterschied zwischen Irrtum und Absicht und weiß sich dagegen zu wehren, wenn jener mit dieser verwechselt wird. Man stößt leicht auf Dutzende solcher Sackgassen, findet jedoch keine befriedigende Antwort darauf, was das Wort "Denkfalle" bedeuten könnte.
Eine zureichendere Antwort findet man, wenn man untersucht, in welchen Kontexten viel von Denkfallen die Rede ist. Das Ergebnis ist ernüchternd. Von "Denkfallen" reden oft Feuilleton-Soziologen und Politkommentatoren. Das ist kein Zufall, denn sie verbindet, dass sie für das, was in der Welt passiert, keine stichhaltigen Gründe und Erklärungen haben, aber Wörter brauchen, um im Geschäft zu bleiben. Google präsentiert für "Ulrich Beck Denkfalle" 242 Treffer. Redakteure des Spiegels - einem Organ in permanenter Denk- und Wortnot -, erfanden deshalb Wörter wie "Globalisierungsfalle" oder "Wutbürger". Beides sind Geburten von Köpfen, die in akute Not gefallen sind wie Obdachlose auf die Straße. Den Obdachlosen fehlt alles, den Feuilleton-Soziologen das richtige Wort zur Sache.
In solchen Notsituationen werden zwar Wörter geboren, aber diese enthalten keine Antwort darauf, ob der "Globalisierungsfalle" und dem "Wutbürger" eine soziale Realität, eine subjektive Bedrohung oder eine interessierte Zielvorstellung entspricht oder alles nur Wortschall und -rauch ist.
Ergo: Die Rede von "Denkfallen" entspringt einer Denkhaltung, der das Denken abhanden gekommen ist und die dieses durch Wörter ersetzt, mit denen der Betrieb bedient wird.
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