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die wahrheitKolumne: Such den Kandidaten!

Allmählich fragten wir uns, was in unserem weit entfernten Wahlkreis los sein mochte. Die Nachrichten, die wir von dort empfingen, ...

... waren schon lange Zeugnisse schwerster mentaler Zerrüttung. Etwas musste vorgefallen sein, wovon wir keine Vorstellung hatten. Ein Kundschafter wurde ausgeschickt, verschwand jedoch spurlos. Ihm folgte ein zweiter, dann ein dritter - auch von ihnen hörte man nie wieder etwas. So konnte es nicht weitergehen. Ich meldete mich freiwillig, um nach dem Rechten zu sehen. Mein Vorgesetzter sagte: "Ich habe Sie nie leiden können, vielleicht werde ich Sie auf diese Weise endlich los. Suchen Sie gleich morgen unseren Wahlkreis auf, nein, besser schon heute."

Bevor er mich hinauswarf, zeigte mir mein Vorgesetzter zur bildhaften Erläuterung der mich erwartenden geografischen Verhältnisse ein maßstabgetreues Modell unseres Wahlkreises. Dann wurde ich zu meinem Einsatzort geflogen. Von oben sah alles genau so aus wie bei dem Modell, sogar der Hintergrund war gemalt. "Respekt!", rief ich ins Motorengedröhn. "Eine wackere Arbeitsleistung dünkt mich das!" Man müsse in der Tiefe Raum sparen, erklärte mir der Pilot, in einer Zeit leerer Kassen gehe es nicht anders. Doch war da mitten im Gelände ein riesenhafter Gegenstand, auf den mich das Modell nicht vorbereitet hatte.

"Das ist das Radioteleskop von Babylon", wurde ich belehrt. Warum hatte mein Vorgesetzter bei seiner Demonstration an der Miniatur etwas so Auffälliges und Landschaftsprägendes ausgespart? Aus Kostengründen? Als ich dann später zu Fuß, weil ich Fahrtkosten selbst hätte tragen müssen, in dieser Landschaft unterwegs war, fiel mir das Radioteleskop aber gar nicht mehr auf. Ich nehme daher an, dass es aus diesem Grund in dem Modell gefehlt hatte.

Weisungsgemäß suchte ich zuerst Erno Stiebel, unseren Wahlkreiskandidaten, in der sehr kleinen dreidimensionalen Stadt kurz vor dem gemalten Hintergrund auf. Es waren eigentlich nur vier oder fünf malerische Häuserblocks, von denen einer auf einer runden Grundfläche stand. Ich staunte, denn der Blick in die engen, totenstillen Straßen hatte etwas überraschend Wirklichkeitsnahes. In einer dieser übrigens namenlosen Straßen, über dem Konzertcafé Klingenberger gleich neben der Regina-Bar, sollte Stiebel angeblich wohnen.

Tatsächlich fand ich seinen Namen auf einem der Klingelschilder an der entsprechenden Haustür. Da diese nur angelehnt war, ging ich gleich hinein, stieg in dem uralten, dunklen Treppenhaus zur zweiten Etage empor und läutete an der Wohnungstür, die ebenfalls nicht geschlossen war. Niemand antwortete, kein Geräusch war zu hören außer denen meines Verdauungsapparates. Wie es wohl alle an meiner Stelle getan hätten, rief ich: "Hallo? Herr Stiebel?", und trat vorsichtig ein. Nichts. Ich ging von Tür zu Tür, klopfte an und sah in die Zimmer. Sie waren leer, nur in einem hing Wäsche, die offenbar nie trocknete. Das handschriftlich auf einem Schild notierte Aufhängedatum lag über ein Jahr zurück.

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