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die wahrheitNackt unter Waschbären

"Wolfskinder" nennt man Findelkinder, die von Tieren aufgezogen werden...

Mit der fortschreitenden Urbanisierung bewähren sich heutzutage auch andere Tierarten als aufopfernde Adoptiveltern. Bild: dapd

...Die meisten bekannt gewordenen Wolfskinder mögen traditionell im Wolfsrudel aufgewachsen sein, aber es machten sich auch andere Tierarten als aufopfernde Adoptiveltern verdient: So wurden der Wissenschaft mindestens fünf Bärenmensch-Aufzuchten bekannt, allein drei litauische Bärenkinder in den Jahren 1661 und 1694 und ein Bärenmädchen in Ungarn im Jahr 1767. Aber auch Schwein, Kuh und Schaf überraschen als Adoptiveltern: Das Salzburger Schweinemädchen und der irische Schafsjunge (1652) gingen in die Findelkindliteratur ein, und der Kalbsjunge von Bamberg wuchs Ende des 17. Jahrhunderts bei einer Kuh auf.

Vom Affen als nächsten Verwandten erwartet man ja geradezu, dass er Menschenkinder adoptiert, aber die bekannt gewordenen Fälle des Paviankinds von Südafrika (1904) und das Affenkind von Teheran (1961) enttäuschen dann doch zahlenmäßig unsere Erwartungen. Dazu wurde immerhin noch John Ssebungi aus Uganda von einem Trupp Grüner Meerkatzen eine Zeit lang als Mitläufer geduldet, bis er 1989 wieder von den Menschen eingefangen und domestiziert wurde.

Die als Menschenfresser verrufenen Raubkatzen hingegen überraschen als Adoptivmütter gegenüber den Affen positiv: Das indische Pantherkind (1920) und das erste und das zweite Leopardenkind (1920 und 1940) lassen jedenfalls auf ihre feliden Ziehmütter nichts kommen und das Tigerkind von Zentralindien schon gar nicht.

Selbst die scheuen Gazellen haben in Mauretanien (1960) und Syrien (1946) ein menschliches Gazellenkind großgezogen. Tropenhelm ab dafür. Weniger überraschend sind die menschlichen Schicksale als Welpe bei den Schakalen in Kutsch Bey oder das Aufwachsen im Rudel wilder Hunde im Sibirien des gar nicht lang zurückliegenden Jahres 2004. Aber der Hund gilt ja auch als bester Freund des Menschen.

Doch der allerbeste Freund ist zweifellos der Wolf, der schon früh angenehm als Adoptivtier auffiel: Nach Romulus und Remus ("Sieben, fünf, drei / Rom kroch aus dem Ei") wurden 1344 der Hessische Wolfsjunge und der Wetterauer Wolfsjunge bekannt, und 1544 kam noch ein zweiter Hessischer Wolfsjunge dazu. Der gute Wolfsruf wurde dann leider durch das Grimmsche Rotkäppchen-Märchen ruiniert, so dass bei uns keine weiteren Wolfsadoptionen bekannt wurden.

In Indien dagegen schon, und das berühmteste Wolfskind Mogli hatte dort 1890 in dem Dorf Sat-Bauri ein lebendiges Vorbild. Ob allerdings Baghira und Balu traurig im Gebüsch hockten, als der zehnjährige Seeall zu den Menschen zurückkehrte, ist nicht überliefert.

Lange blieb es in neuerer Zeit ruhig um die Wolfskinder, doch die fortschreitende Urbanisierung bescherte uns ein neues überraschendes Kapitel in der Wolfskindgeschichte: Das Waschbärenmädchen vom Berliner Alexanderplatz, das kürzlich einem städtischen Tierfänger ins Netz ging! Das erstaunlich saubere, scheue Kind läuft auf allen Vieren und wäscht seine Nahrung in Pfützen oder der Spree, bevor es sie vertilgt. Es plünderte regelmäßig die Abfalleimer rund um den Alexanderplatz und übernachtete mit ihren Mitbären wohl in Tiefgaragen und auf Dachböden.

Die Kleine spricht nicht mit den Wissenschaftlern und verständigt sich lediglich durch Schnarren und leise Brummtöne und bisweilen auch durch abfällige Gesten. Man gab ihr den Namen Wally, und nach einer angemessenen Eingewöhnungsphase soll sie dem Zoologischen Garten übergeben werden, wo sie schließlich im Gehege des unvergessenen Knut zum neuen Publikumsmagneten werden soll!

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