die wahrheit: Die große Fremdheit
Zur Beerdigung eines Jugendfreunds kehrte ich erstmals nach dreißig Jahren wieder in die Kleinstadt zurück, in der ich aufgewachsen war...
Z ur Beerdigung eines Jugendfreunds kehrte ich erstmals nach dreißig Jahren wieder in die Kleinstadt zurück, in der ich aufgewachsen war. Die Stadt hatte sich in der Zwischenzeit noch unvorteilhafter verändert als ich selbst, den Friedhof fand ich aber an der gewohnten Stelle.
Der Trauergottesdienst war schon vorüber. Als ich bei strömendem Regen ankam, zog die nicht eben zahlreiche Trauergemeinde unter dem Wimmern des Totenglöckchens von der Friedhofskapelle zum offenen Grab. Eilig schloss ich mich an und hielt im Gehen Ausschau nach bekannten Gesichtern unter den aufgespannten Schirmen. Damit fuhr ich fort, als das Ziel erreicht und der Überblick über sämtliche Anwesenden leichter war, doch sah ich ausschließlich Fremde vor mir.
Naheliegenderweise fürchtete ich, an der falschen Beerdigung teilzunehmen. Es konnte durchaus vorkommen, dass ich etwas verwechselte; mir fiel wieder eine Veranstaltung ein, die ich nicht erlebt hatte, weil ich mir grundlos eingebildet hatte, die geografische Lage des Austragungsorts zu kennen. Möglichst diskret zog ich mein Notizbuch zu Rate: Ort und Zeit stimmten. Also blieb ich und wartete ab. Der Pfarrer hielt eine kurze unsinnige Rede, in der wiederholt der Name meines Jugendfreunds vorkam, also hatte alles seine Richtigkeit.
Anschließend wurde der Sarg von vier Trägern über dem Erdloch in Position gebracht, fiel klatschend in die wassergefüllte Grube und ging gurgelnd unter. Der Pfarrer begann, der Reihe nach allen die Hände zu schütteln, doch nach der fünften oder sechsten lief er plötzlich unartikuliert schreiend davon. Die Trauergäste blieben davon offenbar unbeeindruckt und begaben sich zum Leichenschmaus in einer schäbigen Gaststätte gleich neben dem Friedhof.
Unter lauter fremden Leuten saß ich dort am Tisch und betrachtete traurig, was man uns zum Verzehr hinstellte. Die Frau neben mir fragte mich, in welcher Beziehung zu dem Verstorbenen ich denn wohl gestanden habe. Wahrheitsgemäß gab ich ihr zur Antwort, wir seien Kindheits- und Jugendfreunde gewesen. Mein Name sagte ihr so wenig wie mir ihrer.
Bei dieser Gelegenheit gab ich dann auch meiner Verwunderung darüber Ausdruck, dass ich niemanden der Versammelten kannte. Ich nannte der Frau ein paar Namen von Menschen, die ich früher hier gekannt hatte, doch erwiderte sie jedes Mal entweder "schon gestorben" oder "wohnt nicht mehr hier". Nur bei einem hieß es: "Ja, der lebt hier noch, aber er öffnet nicht die Tür, wenn es läutet, weil er glaubt, es seien die Leute von der Volkszählung."
Wie es sich ergab, unterhielten wir uns ein wenig über unsere Kindheit und Jugend in diesem Ort und stellten fest, dass wir gleichaltrig waren und die gleichen Erinnerungen an alles hatten. In zartem Alter mussten wir eigentlich Spielgefährten gewesen sein, hatten aber keinerlei Erinnerung an einander. Anhand meiner Beschreibungen konnte sich die Frau immerhin ziemlich genau an meine Eltern erinnern, gleichwohl war sie vollkommen sicher, diese seien kinderlos gewesen.
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