die taz vor zehn jahren über die forderung nach einer amnestie für ddr-unrecht :
Der Urteilsspruch gegen Kleiber, Krenz und Schabowski war noch nicht zu Ende gesprochen, da meldeten sich bereits die ersten mit der Forderung nach einer Amnestie zu Wort. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer sollen andere Formen als die justitielle im Umgang mit der untergegangenen DDR gesucht werden. Vordergründig hört sich das ja ganz gut an. Es hat nur den Schönheitsfehler, daß es diesen anderen Umgang wenigstens bisher gar nicht gibt. Die Gerichtssäle sind zur Zeit der einzige Ort, an dem über Unrecht in der DDR geredet und geurteilt wird.
Deshalb aber von einer Siegerjustiz zu sprechen, ist reichlich überzogen. Zum einen sei daran erinnert, daß das Verfahren gegen die Politbüromitglieder noch zu DDR-Zeiten initiiert wurde. Zum anderen entpuppen sich die Gerichte gar nicht als der Racheengel, als der sie gerne gescholten werden. Über 50.000 Ermittlungsverfahren wurden nach der Vereinigung eingeleitet, in nur wenigen Fällen wurde dann tatsächlich Anklage erhoben. Die Gerichtsverfahren endeten auch nicht regelmäßig mit hohen Urteilssprüchen.
Wer heute eine Amnestie anmahnt, der sollte sich die Folgen seiner Forderung vor Augen führen. Geringfügige und mittelschwere Delikte sind bereits verjährt, sie können nicht mehr strafrechtlich geahndet werden. Von einer gesetzlich geregelten Straffreiheit könnten also nur die profitieren, die sich schwerwiegender Rechtsverstöße und Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben.
Der Ruf nach einem Schlußstrich ertönt immer dann, wenn die Aufarbeitung der Geschichte Betrachtern und Betroffenen als Zumutung entgegentritt. Das Aussparen bestimmter Probleme aus der öffentlichen Diskussion hat aber noch keiner Gesellschaft geholfen – gerade das ist eine der Lehren aus dem Zusammenbruch der DDR. Wer heute eine Amnestie fordert, der redet einer Amnesie das Wort.
Wolfgang Gast in der taz vom 27. 8. 1997