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Archiv-Artikel

die taz vor neun jahren über die wirtschaftskrise in Russland und tschernomyrdins notprogramm

Mit jedem weiteren führungslosen Tag setzt Moskaus politische Klasse den Wagen tiefer in den Sumpf. Es hat den Anschein, als würden die Aktivisten auf der Insel Moskau nicht wahrnehmen wollen, was an den Rändern des Riesenreiches vor sich geht. Kaliningrad erklärte den Ausnahmezustand, der Gouverneur im Leningrader Gebiet verfügte ebenfalls Notmaßnahmen. Und damit nicht genug. Reihenweise werden Provinzen in den nächsten Wochen folgen. Notwährungen und Lebensmittelkarten werden schon bald zum russischen Alltag gehören.

Die Desintegration hat eingesetzt. Die patriotischen Heißsporne, die ansonsten keine Gelegenheit auslassen, ihre Liebe zu „Mütterchen Rußland“ zu beschwören, beschäftigen sich statt dessen mit Pöstchenschacherei und parteipolitischem Gezänk. Antiinflationsmaßnahmen à la Argentinien lehnen sie ab, weil sie nicht wieder einem westlichen Land auf den Leim gehen wollen. Nicht einmal in der Stunde der Entscheidung können sie sich von ihren egoistischen Interessen lösen.

Es existiert kein nationaler Konsens, kein kleinster gemeinsamer Nenner, auf den sich die einzelnen Vertreter in der Stunde der Not jenseits ihrer partikularen Interessen einigen könnten. Die Desintegration des gesamtes Staates scheint daher nur eine logische Konsequenz zu sein. Ebenso wie die Schwierigkeiten, einen Kandidaten für das Amt des Premiers zu finden. Die ausgedienten Altapparatschiks, die auserkoren wurden, das Land vor dem erneuten Absturz zu retten, beflügeln nicht gerade die Hoffnungen auf Erfolg.

Das jüngste Krisenprogramm Tschernomyrdins, das rigide administrative Maßnahmen vorsieht, atmet denn auch den Geist der traurigen autoritären Geschichte. Die Ansätze einer ausdifferenzierten Gesellschaft werden wieder mit einem Strich zunichte gemacht. Die offizielle Verfügung des Dollars als zweitem Zahlungsmittel neben dem Rubel bricht auch nicht mit dieser Tradition. Damit begleicht der funktionsuntüchtige Staat die selbstverschuldeten Schulden. Die Zeche bezahlt selbstverständlich das Volk. Nun sage jemand, Geschichte wiederhole sich nicht.

Klaus-Helge Donath in der taz vom 10. 9. 1998