die stimme der kritik: Betr.: Warum Nietzsche überholt ist
AKTIEN ZU PAPIERBOOTEN
Es ist ja so, dass zu einem heutigen Lebensgefühl ab und an ein verblüfftes Kopfschütteln gehört: Was sich die Wirklichkeit da wieder ausgedacht hat, das geht nun aber wirklich zu weit. Denkt man dann und ist im ersten Moment empört (zur Veranschaulichung ließe sich auf die Fanausschreitungen rund um „Big Brother“ verweisen; aber sie wird eh genug erwähnt, diese Sendung). Im zweiten Moment – und wenn man nicht über die geradezu unendliche Empörungskapazität der Lehrerschaft verfügt (siehe die Leserbriefe der vergangenen Tage) – mag man wieder gelassener sein. Um im dritten Moment nachgerade andächtig zu werden angesichts der Kreativität unserer schönen kleinen Wirklichkeit: Keine verblüfft so nachhaltig wie sie. Weshalb Nietzsche – zum Beispiel – teilweise überholt ist. „Wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein“, trompetete er. Von wegen!
Das Kreativsein überlässt man mal schön den Medien. Gegen die Kapriolen der Realität kommt sowieso niemand an. Und was die Lebensgestaltung betrifft, müsste Nietzsches Selbstaufforderung eher lauten: „Wir aber wollen die Spekulanten unseres Lebens sein!“ Man kann ja als einfacher Kulturredakteur geradezu neidisch werden angesichts des Imagewandels, den die Kollegen aus der Wirtschaftsredaktion in diesen Tagen vollziehen. Wenn unsereinem noch vor fünf Jahren einer erzählt hätte, dass ein BWL-Studium mal hip sein wird ... das verblüffte Kopfschütteln hätten Sie mal sehen sollen!
Fragt sich, ob die neuen Aktienspekulanten fehlgeleitete Nietzscheaner sind. Und ob noch jemand Geisteswissenschaften studiert. Das sind, zur Erinnerung, die Disziplinen, in denen auf Entwicklungen der Realität nicht nur mit Verblüffung, sondern auch mit Nachforschungen reagiert wird. Sogar mit Aussicht auf eine feste Arbeitsstelle, wie nun eine Institution namens Philip Morris Kunstförderung herausgefunden hat: Die Arbeitslosenquote für Geisteswissenschaftler liege nur wenig über dem Durchschnitt aller Akademiker. Siehste! Wieder was Verblüffendes. Und nächstes Mal klären wir die Frage, welche hübschen Papierboote man im Fall der Fehlspekulation aus wertlos gewordenen Aktien falten kann. DIRK KNIPPHALS
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