die stimme der kritik: Betr.: Der neue Realismus
An Schuhe gehören Absätze!
Achtung: Ein gefährlicher Hang zum Realismus macht sich breit! Wie aus gut informierten Quadraten berichtet wird, ist der „Realo-Trend“ kaum mehr aufzuhalten.
Beispiel Kunst: Dogma-Filme. Und im Film „Der Sturm“ sieht man eine Dreiviertelstunde lang normale, unspektakuläre Männer (sogar Clooney knautscht wie eine gewaschene Socke), die unspektakuläre Dinge mit hässlichen, toten Fischen tun. Die Fischerboote sind so abgenutzt und schmutzig, dass es im Kino stinkt. Erst ganz spät wird man endlich in eine computeranimierte Halbwelt entlassen, in denen klitzekleine Nussschalen gegen Mega-Wellen keine Chance haben. In Büchern erzählen junge Leute seitenlang minutiös von Alltäglichkeiten.
Beispiel Mode: überall flache Schuhe, entweder weiter entwickelte Gummilatschen, die vermutlich wegen ihres doofen Geräusches „Flip-Flops“ heißen, oder Turnschuhe ohne Senkel, die an blinde Süßwasserfische erinnern. Nirgends märchenhafte Ruckeldigu-Blut-ist-im-Schuh-Pantoffeln. Beispiel Fernsehen: Nur noch „normale“ Leute, die in ihrer Bunkerwohnung sitzen, Brusthaare schnippeln und dummes Zeug reden, bringen Quote. Beispiel Werbung: „Wohlfühl-Pulli“ und „Weekend-Feeling“ sollen an an „kuschelige“ Zu-Hause-Bleib-Wochenenden erinnern, bei denen unrasierte Menschen „sich so geben, wie sie sind“, nämlich „einfach sie selbst“. Just be.
Beispiel Politik: Plötzlich einigen sich alle und fahren in den Urlaub. Forderungen nach sofortigem atompolitischem Abschalten sind auf einmal unrealistisch, Reformen werden sogar von der Opposition akzeptiert, und man lädt sämtliche Diktatoren zum vernünftigen Plausch ein oder besucht sie.
Beispiel Magie: Zaubertricks werden im Fernsehen erklärt. Der Tiger ist bei dem Trick, wo sich eine Assistentin in einen Tiger verwandelt, schon die ganze Zeit im Kasten, und bei der zersägten Jungfrau ist die Assistentin erstens keine Jungfrau und zweitens zwei: Eine steckt ihre Hände oben durch die Löcher und wackelt damit, die andere kommt von hinten und steckt ihre Beine unten durch die Löcher. Beispiel Sport: Jeder weiß, dass SportlerInnen nicht wirklich schnell und stark sind, sondern sich mit Zahnpasta dopen. Und beim deutschen Fussball ist es geradezu grotesk realistisch geworden.
Wir fordern: Realos raus! MärchenerzählerInnen rein! Zaubertricks wieder in Geheimbücher schreiben! An Schuhe gehören Absätze! JENNI ZYLKA
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