die stimme der kritik: Betr.: Die reinigende Kraft des Mea culpa
Die Resozialisierung des gemeinen Regierenden
Wieder einmal kommen beispielhafte Politikergebärden aus dem Ausland, diesmal aus dem fernen Indonesien. Dort hat sich am Montag Präsident Abdurrahman Wahid öffentlich entschuldigt – nicht für einen Rülpser beim Mittagessen oder weil er bei einer Rede der Opposition eingeschlafen wäre, sondern gleich für seine gesamte Regierungsführung in den ersten zehn Monaten seiner Amtszeit. Man möge ihm vertrauen, schickte er versöhnlich hinterher, er werde es weiter versuchen mit dem Regieren.
Russlands Präsident Jelzin entschuldigte sich erst am Ende seiner Präsidentschaft für alle möglichen Dinge, Präsident Clinton mussten reuige Worte für die Praktika im Weißen Haus erst aus dem Hosenstall gezogen werden, Rumäniens Präsident Constantinescu bat all jene, „die geglaubt haben, sie würden (während seines Mandats) besser leben“, erst um Verzeihung, als er Mitte Juli seinen Rückzug aus der Politik ankündigte – Wahid hingegen will einfach weitermachen.
Das hat Stil, das hat Klasse, das muss anderen ein Beispiel sein. Asylrecht bleibt abgeschafft? ’tschulligung. Drei Jahrzehnte länger Atomkraft? Pardon. Expo versiebt? Sorry about that. Nix gegen Nazis gemacht? Wir bitten vielmals um Verzeihung. Wie belebend wäre es, wenn im Deutschen Bundestag zu Beginn jeder dreitägigen Haushaltsdebatte die Regierung sich für alles entschuldigte, was sie im Vorjahr versaubeutelt hat, um dann den rituellen Satz zu sprechen: „Haben Sie Vertrauen, wir versuchen es weiter.“ CDU-Regierungen dürften gegebenenfalls die Formel „so wahr uns Gott helfe“ anfügen. Das Parlament würde sich zunächst schweigend von den Plätzen erheben und hätte sodann das Recht, den Ministern zwischen zehn und einhundert Rosenkränze aufzugeben und für den jeweiligen Finanzminister noch drei Ave-Maria obendrauf. Die reinigende Kraft des Mea culpa könnte alljährlich Moral und Zuversicht der deutschen Politik auffrischen. Die Oppositionen laufen ins Leere – wer will hartherzig sein, wenn die Schuldigen um Verzeihung bitten? Der Gedanke der Resozialisierung des gemeinen Regierenden stünde im Vordergrund.
Zukunftsträume, Illusionen? Da war doch was, gerade vor zwei Wochen. In Demut hat der Kanzler vor seinem Volk gekniet, und was meldet dpa? „Vor seinem Urlaub hat Bundeskanzler Gerhard Schröder eine positive Bilanz der rot-grünen Koalition zur Mitte der Legislaturperiode gezogen.“ Diese Nachrichtenagenturen! BERND PICKERT
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