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die stimme der kritikBetr.: „FAZ“-Herausgeber erlebt historische Stunden

Rauschender Rausch

Und Frank Schirrmacher von der FAZ durfte wieder dabei sein, als es ums Ganze und Letzte ging – wie ehedem Diederich Heßling, der Held im Roman „Der Untertan“, beim Vorbeiritt des Kaisers. Bei Heinrich Mann heißt es: „Zwei Schritte vor ihm ritt der Kaiser hindurch. Diederich konnte ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blitzen; aber ihm verschwamm es vor Augen.“ Als Schirrmacher das vorletzte Mal kaum das Wasser zu halten vermochte, war es Hochsommer. Stilsicher wählten Ernst Jünger, Helmut Kohl und François Mitterrand den 20. Juli, den Gedenktag an den Widerstand, um sich zu sehen. Schirrmacher durfte dabei sein und „Das Gipfeltreffen in Wilflingen“ (FAZ 22. 7. 93) als Kammerdiener begleiten: „Gleichgültig bietet die Natur ihren Sommermorgen. Es ist einer wie alle. Aber etwas geschieht hier ... Wer auf der Straße steht, ... an diesem 20. Juli 1993, der spürt, dass die Zeit über die Ufer tritt. Er kann ihr Rauschen vernehmen.“ Hier rauscht „Geschichte“ noch, deshalb „keine Gleichzeitigkeiten, sondern Ungleichzeitigkeiten“. Kohls unentwegt beschworene „historischen Stunden“ wuchern zum „Rauschen der Zeit“ und fort zum „Rausch, höher und herrlicher als der, den das Bier vermittelt“ (H. Mann).

Am „Vorabend der Veröffentlichung des menschlichen Erbguts“ durfte Schirrmacher wieder dabei sein – beim „philosophischen Abendessen“ (FAZ 13. 2. 01) mit Craig Venter und Peter Sloterdijk beim „Chinesen“ in Lyon. Als Gouvernante trat die US-Botschafterin in den Niederlanden auf, die Sloterdijks abendfüllende Frage nach dem Warum von Venters Jagd nach dem Genom – „das Gespräch rettend“– auf die Konsistenz der Pekingente umlenkte. Schirrmacher war Zeuge, als Sloterdijk Venter zukunftsrettende Sätze über „Eltern“ und „Großeltern“, „Vietnam“ und – nach 49 Minuten – über „Segelboote“ entlockte. Die Spannung knisterte in die erste Klimax über, und der Berichterstatter notierte mit schweißnassen Händen Venters Sentenz: „Der Tod ist das Ende. Wir müssen unsere kurze Lebenszeit ausnutzen.“

Als Venter gestand, „ich bin keine Gottheit“, klärte sich für Schirrmacher das ultimativste der letzten Welträtsel: „Unser Gespräch über die biologische Zukunft des Menschen ... klingt wie die Sprache des Genoms.“ Hier irrt Schirrmacher: AGTC ist keine „Grammatik des Lebens“ und keine Sprache. Sein „Gespräch“ ist Rauschen oder „höherer Rausch“ – in H. Manns Sinne. RUDOLF WALTHER

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