die sache ist: Ein Sport, der eher eine Kultur ist
Das Holstentor-Turnier feiert das Boulespiel – und mit ihm den Transfer eines Welterbes
So gut wie kein Medienecho hatte in Deutschland das größte Sportereignis der Welt, das kürzlich in Frankreich zu Ende gegangen ist: Mit 4.784 gemeldeten Dreier-Teams, also mindestens 14.352 Teilnehmenden, hat die Marseillaise 2025 einen neuen Rekord aufgestellt. Aber es handelt sich bei dieser Disziplin dann eben doch mehr um eine eigene Kultur als um eine Leibesübung – weshalb sich die Sportteile der deutschen Tageszeitungen eben nicht berufen fühlten, über diese offene Weltmeisterschaft der Pétanque zu berichten, auch die regionalen nicht, die doch hätten darauf hinweisen können, dass beispielsweise allein aus Lübeck drei Triplettes angereist waren. Dort findet nun am Wochenende das große Holstentor-Turnier statt, veranstaltet von der „Compagnie de Boule de Lübeck“.
Die relative Randständigkeit von Boule in Deutschland ist schnell erklärt. Denn selbst in der provenzalischen Wettkampfform Pétanque fehlt dieser Disziplin so ziemlich alles, was Sportarten wie Fußball so beliebt macht: Geld spielt bei Boule keine große Rolle. Auf Geschlechtertrennung kann es verzichten. Fouls mit schweren gesundheitlichen Nachteilen für die Mitspieler kommen nicht vor. Ein autoritärer Schiedsrichter ist bei Boule entbehrlich. Und jede Partie ist anders als die vorhergehende. Das führt zu für Sportfans unerträglicher Spannung und Dramatik: Noch nicht einmal, wer am Ende den Meistertitel holt, steht von vornherein fest! So hatte sich in Marseille ein Triplette aus Madagaskar durchgesetzt. Und im spanischen Santa Susanna ist vergangene Woche das deutsche Nationalteam Europameister geworden. Im Finale hat es die französische Équipe bezwungen.
Das Europameister-Trio stammt aus Baden-Württemberg. Die Begeisterung dafür, mit 700 Gramm schweren Stahlkugeln einem vorab mindestens sechs Meter weit geworfenen Zielbällchen, dem Cochonnet, möglichst nahe zu kommen, ist halt in Deutschland erst nach 1945 erwacht – in den damals französisch verwalteten Gebieten.
Aber im Laufe der Zeit hat sie dann auch in Norddeutschland Fuß gefasst, und in Lübeck findet eins der schönsten Turniere statt: Im Brügmanngarten und an der Strandpromenade begehen ab Samstag 2.000 Teilnehmende mit herrlichem Blick auf die Bucht den Transfer dieses in seinen 19 regionalen Varianten geschützten, immateriellen Kulturguts. Von denen sind die meisten viel älter als das erst 1910 in La Ciotat bei Cassis kodifizierte, heute verbreitetste „Jeu Provençal“. Dessen Hauptneuerung, dass der Anlauf wegfällt, verdankt sich dem Rheumaleiden des örtlichen Spielers Jules Hugues. Sie hat dann auch für den aus den Wörtern „pèd“, Fuß, und „tanca“, einrammen, zusammengesetzten Namen „Pétanque“ geführt.
Die Anfänge der Boulekultur verlieren sich in der gallorömischen Zeit. Trotz Repressionsversuchen war sie nie weg: Als „exercice fort connu“, sehr bekannte Übung, erhält es 1752 in der Encylopédie von Denis Diderot und Jean d’Alembert einen Eintrag.
Das tragische Potenzial des Spiels nutzt rund 100 Jahre später dann Honoré de Balzac: Er schildert den Wahnsinn, dem Ferragus, der Ex-Chef des Verbrechersyndikats „Les Dévorants“, am Ende seiner kriminellen Karriere verfällt, indem er ihn als besessenen Boulespiel-Beobachter zeigt: „ein Sklave der Kugeln“, der das Cochonnet bewacht, schweigend. Auch bei Spielunterbrechungen im strömenden Regen. Benno Schirrmeister
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