die kritik der woche : Besser spät als nie: „Die Brücke“ in Bremen
Expressionisten denken immer nur an das eine – ans Malen. „Oft stand ich mitten im Coitus auf, um eine Bewegung, einen Ausdruck zu notieren“, erzählt Ernst Ludwig Kirchner. Zwischen selbst genähten Kissen und den handgebatikten Vorhängen seines Dresdner Ateliers suchten er und die anderen „Brücke“-Kollektivisten nach „Arm- und Lebensfreiheit“. Die Ergebnisse sind jetzt in der Bremer Kunsthalle zu finden – die damit zum ersten Mal in „Brücke“ macht.
Anlass: Am 7.Juni vor 100 Jahren begann die Moderne – beziehungsweise der Abstieg der Kunst in den Rinnstein, um mit Kaiser Wilhelm zu sprechen. Der Jahrestag der „Brücke“-Gründung hat ein gutes Dutzend Jubiläumsschauen generiert, von denen sich Bremen durch die Fokussierung auf den Akt abhebt. Was nahe liegt: Kirchner erklärte ihn zur „Grundlage aller bildenden Kunst“. Und ein Drittel der 300 Kunsthalle-eigenen „Brücke“-Werke ist der Nacktheit gewidmet.
Zentrales Bild, der Stolz des Hauses, ist ein doppelter Kirchner. Vorne ein „Liegender Akt mit Fächer“ von 1909, Matisse gemäß flächig-dekorativ ausgebreitet. Später nutzt Kirchner die Rückseite, um seine Umorientierung zu dokumentieren. Angeregt vom außereuropäischen „Primitivismus“ lässt er eine scharf konturierte exotische Schönheit schlummern. Direkt gegenüber: ein furchtbarer Otto Mueller, der mädchenhafte Modelle gern an Bäume lehnt, um zarte arkadische Szenarien zu suggerieren. Neben Zeichnungen der – sexuell konnotierten – Kindermodelle zeigt Bremen innovativ Männliches. Etwa den nackten Schmidt-Rotluff, der rötlich koloriert in den Dünen lagert. Eine emotionale und zugleich abstrahierende Kunst, der keine erhabene Dauerpose zu Grunde liegt. Gesucht: Körper in Bewegung, das praktische Ergebnis: der flotte „Viertelstundenakt“. Länger durfte man nicht verharren, hatten die anti-akademischen Autodidakten beschlossen.
Was war außerdem „modern“? Den Druckstock für den – erstmals seit Dürer ernsthaft reanimierten – Holzschnitt längs der Maserung zu schneiden – statt quer? Revolutionär. Auffälliger ist das Vermarktungsgeschick. Emil Nolde kam auf den Kniff, „passive Mitglieder“ zu werben: Für 12 Mark (später 25) abonnierten sie eine Jahresmappe. Bei 70 Lux dämmern die seltenen Exemplare nun im Kupferstichkabinett – und erhellen die Suche nach gemeinsamem Stil.
Völlig zu Recht kommt Fritz Bleyl, obschon einer der vier „Brücke“-Gründer, dabei so gut wie gar nicht vor. Selber Schuld: Schließlich fand er es mit 26 Jahren an der Zeit, aus dem wilden Avantgarde-Leben auszusteigen und brav verehelicht eine Karriere als beamteter Baurat anzusteuern. So kommt man nicht ins Museum.
Henning Bleyl
Bis 8. Juni in der Bremer Kunsthalle