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Archiv-Artikel

die jazzkolumne Durchhalten mit Miles und Monk

Ist die Zeit der 3.000-Dollar-Anzugleute vorbei? Die junge Szene hat wieder Lust auf freie Experimente

Er sieht ein bisschen so aus wie Forest Whitaker in „Ghostdog“, groß und schwer, vertikale Ruhelage. Wenn Tyshawn Sorey Klavier spielt, schaut er oft in Richtung Publikum – suchend und abwesend zugleich. Tatsächlich zählt der erst 25-jährige Musiker zu den großen Entdeckungen auf der aktuellen Szene. Mit Steve Colemans Five Elements war er in diesem Jahr in Europa auf Tour, und ob nun mit Dave Douglas NOMAD oder mit Vijay Iyers Fieldwork – auch als Schlagzeuger ist Sorey derzeit mit den angesagtesten Bands unterwegs.

Woher die Begeisterung für Sorey rührt, das kann man jetzt sehr schön auf einer CD hören, die vor einem Jahr in GBGB’s Gallery an der Bowery – einst heruntergekommenes Terrain, heute Entwicklungsmeile für Büroneubauten – aufgenommen wurde. „Configuration“ (Silkheart 155) heißt die CD des Sirone Bang Ensemble, in dem neben Sorey, der hier Schlagzeug spielt, drei 50plus-Protagonisten des New Yorker New Thing in einer ersten gemeinsamen Session zu hören sind: Billy Bang, Geige, Sirone, Bass, und Charles Gayle, Saxofon. In diesem atemraubenden Konzert spielen sie wunderschöne Kompositionen wie Sirones „We Are Not Alone, But We Are Few“ und „I Remember Albert“ – offene, intensive Improvisationen mit großer Energie und Sorey als, ja, treibende Kraft.

Beim 10. New Yorker Vision Festival war Sorey dann in der Reihe „aufstrebende Künstler“ angekündigt. Das war an einem dieser heißen New Yorker Juninachmittage an der Lower East Side, nur wenige kamen, um den Jazz-Poetry-Nachwuchs im Vorprogramm zu hören – jeder der Auftretenden hatte sich offenbar selbst ein paar Freunde und Verwandte mitgebracht. Der New-Thing-Aktivist und -Dichter Steve Dalachinsky, der übrigens gerade an einem Buch zum Thema „Wie ich 18 Jahre meines Lebens damit zugebracht habe, Charles Gayle zu hören“ arbeitet, machte den MC; und Sorey produzierte in einer Klavier-Solo-Performance mit Papier, Metall und Holz und gewaltiger Körperkraft eine Klangwucht, die bedrohlich und visionär zugleich wirkte.

Später am Abend, im offiziellen Teil sozusagen, stand auch ein Konzert mit Peter Brötzmann und dem New Yorker Schlagzeuger Nasheet Waits auf dem Festivalprogramm. Das Duo war gerade aus Chicago angereist, wo es zwei Tage zuvor im Empty Bottle eine CD aufgenommen hatte: „Live at the ‚bottlefest‘ 2005“ ist die erste CD, die auf Brötzmanns Label brö A erschienen ist. Mit Brötzmann-Cover-Art und auf 400 Stück limitiert ist diese CD mit vier freien Improvisationen vorwiegend für den Verkauf bei Konzerten des Duos gedacht. Über www.eremite.com kann man sie auch via Internet beziehen.

Peter Brötzmann wurde 1941 in Remscheid geboren, in Wuppertal studierte er Kunst und jobbte als Grafiker, ab 1962 spielte er regelmäßig mit dem Bassisten Peter Kowald im Trio. Der von Irène Schweizer mal als „Vater des deutschen Free Jazz“ bezeichnete Saxofonist machte weltweit unzählige Plattenaufnahmen, in den letzten Jahren trat er häufig in Chicago auf.

Den 1971 in New York geborenen Schlagzeuger Nasheet Waits, der in diesem Jahr auch mit Jason Morans „Same Mother“-Trio (Blue Note) in Deutschland tourte, nennt Brötzmann einen Glücksfall für die improvisierende Szene. „Es könnten gerne mehr sein“, sagt er dann aber auch, denn „die Hochschulen tragen da eine Verantwortung, der sie nicht gerecht werden – was man da lernt, ist wohl prima, aber es reicht nicht, wenn man alles rauf- und runterspielen kann, jedoch selbst keine Stellung bezieht. Ich halte mich da eher an die alten Bluesmusiker: Das, was man braucht fürs Leben, lernt man auf der Straße, man muss unterwegs sein, die Erfahrung machen, auch mal in der Scheiße stecken und, na klar, da auch wieder rauskommen.“

Durchhalten, durchhalten, an das glauben, was man tut, darum gehe es. Wenn Brötzmann in den Staaten Vorträge vor Collegestudenten hält, kommen sie ihm schnell „mit Wynton Marsalis und den erfolgreichen 3.000-Dollar-Anzugleuten – ich meine, das brauchen wir nicht, die sollen mal wieder Gospel und Blues hören, es geht um Bescheidenheit, die Grundlagen“.

Die Musik, die weiterbringt, werde von Leuten kreiert, die in ihrem Leben ganz normal hart arbeiten. Brötzmann nennt Sam Rivers, Fred Anderson und eine Reihe von Leuten, die nie riesig im Rampenlicht stehen, doch durch ihre ständige aufopfernde Arbeit die Musik entwickeln: „Das, was man von Miles und Monk lernen kann, ist herauszufinden, was mit einem selbst los ist – dazu muss man spielen, auf der Bühne, auf der Straße.“

Von Monk lernen ist auch ein Lied, das der Berliner DJ Illvibe singen kann. Der 25-jährige Sohn des Free-Jazz-Pianisten und Komponisten Alexander von Schlippenbach spielte schon als Kind Schlagzeug dazu, wenn sein Vater am Klavier Monk übte. Und wenn er Musik hören wollte, lieh sein Vater ihm gern mal eine alte Brötzmann-Platte aus. Die Pianistin Aki-Takase, Alex von Schlippenbach und DJ Illvibe an den Turntables haben dieses Jahr „LOK 03“ (Leo Records 427) veröffentlicht, eine äußerst spannende CD mit einer Menge assoziativer Fantasieklangbilder zu Städten. Für „Eisenhüttenstadt“ nahm Illvibe eine Geräuschplatte aus den Siebzigern, „Bei der Arbeit“, weil es darauf Maschinengeräusche jeder Art gibt, „Oklahoma“ ist ein satter Blues, und für den Opener „Berlin“ verwendete er einen alten Tonträger aus der DDR, auf dem 99 verschiedene Lokomotiven aufgezeichnet sind. So fuhr die LOK 03 von der Platte ab. CHRISTIAN BROECKING