die favoritenanalyse : Wie Argentinien Weltmeister wird
Argentinien glaubt dran, dass Ballbesitz irgendwann Raum entstehen lässt. Wenn der Raum entsteht, macht Argentinien Tore
Das Beste am Fußballspielen ist der Ballbesitz. Das gilt auch für Argentinien. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine ist Geschichte.
Der zweite Grund befindet sich in der Gegenwart: Die argentinische Nationalmannschaft, die davon träumt, das historische Erbe anzutreten, hat bei dieser WM in Deutschland bereits unter Beweis gestellt, dass sie dazu in der Lage ist. Argentinien entwickelt sein Spiel über Juan Román Riquelme, einen rasanten Spielmacher, dessen schnelles Auffassungs- und Einfühlungsvermögen manchmal vortäuscht, er sei langsam auf den Beinen.
Riquelme, dessen fußballerisches Konzept der gleichen Logik wie der von Zinedine Zidane folgt, braucht Mitspieler, die seine Vorstellung teilen, das Spiel sollte sich so lange geduldig über das Ballhüten aufbauen, bis sich eine der schwierigsten Sachen überhaupt im körper- und taktisch betonten Fußball unserer Zeit ergibt: der Raum.
Wenn dieser Raum entsteht, macht Argentinien Tore. Wenn dieser Raum entsteht, verwandelt sich Argentinien in eine Mannschaft, die siegen und brillieren kann. Gewiss, während der Vorrunde gab es Momente, in denen Argentinien den Ball verlor. Das kam vor allem im Auftaktspiel gegen die Elfenbeinküste vor, vermutlich aus Nervosität. Es passierte in geringerem Maße im Spiel gegen die Niederlande. Gar nicht jedoch kam es gegen Serbien und Montenegro vor. Das war eine Darbietung, die mehr als eine Fußballtheorie über den Haufen warf und bewies, dass es dann und wann Mannschaften gibt, die der Perfektion nahe kommen.
Bislang hat Argentinien Schwierigkeiten mit einer Gabe gelöst, die sonst kaum jemand besitzt: zwei überzeugende Stürmer, die hitzig und entschieden auch die schwierigsten Herausforderungen leicht aussehen lassen. Javier Saviola (in einer Topform, die selbst viele Argentinier überrascht) und Hernán Crespo bilden das Stamm-Stürmerduo.
Doch die Kühnheit von Carlos Tevez und das atemberaubende Tempo von Lionel Messi stellen sensationelle Varianten dar. Derzeit wird in Argentinien ständig darüber debattiert, wer die Angreifer sein sollten.
Das andere Argument für die argentinische Mannschaft ist ihre starke Abwehr, mit der kaum jemand gerechnet hatte. Die beiden Manndecker Roberto Ayala und Gabriel Heinze erlitten in der Saison zuvor schwierige Verletzungen, von denen sie sich jedoch vollständig erholt haben. Vervollständigt wird die Abwehr durch Javier Mascherano, der ebenfalls einen komplizierten Bruch auskurieren musste. Er ist ein weiteres Symbol für die Tradition des argentinischen Fußballs im besten Sinne.
Obwohl er vielleicht noch nicht seine Bestform bei dieser Meisterschaft erreicht hat, reagiert er mit Weisheit und Bedachtsamkeit und wirft die Maschinerie an, die arbeitet, bis der Ball auf den begnadeten Füßen Riquelmes gelandet ist.
Ein weiteres Ass: Auf der linken Seite spielt Juan Pablo Sorin, der Kapitän, der nicht nur die Fähigkeit beisteuert, sich in einen Stürmer zu verwandeln, sondern zudem die Mannschaft mit der Kraft und Inspiration ansteckt, die jedes Team braucht. Natürlich ist die argentinische Mannschaft weit davon entfernt, wie ein Orchester frei von Misstönen zu spielen. Es gibt keine Garantie, dass sie ihren besten Fußball dauerhaft spielen können. Wie viele Mannschaften dieser WM ist sie noch dabei, ihre endgültige Form des Zusammenspiels herauszufinden. Dabei hilft, dass viele ihrer Spieler sich mit wenigen Gesten verstehen, weil sie zusammen in Jugendmannschaften gespielt haben, die von José Pekerman trainiert wurden, dem Trainer, der heute die Nationalmannschaft anleitet. Doch schon heute gegen Mexiko (21 Uhr) reicht eine schlechte Partie, Pech oder ein besonders inspirierter Gegner, um das Wachsen dieser Mannschaft für immer zu unterbrechen. Argentinien wird sich großen Gegnern sowie dem Favoriten-Druck stellen müssen, der auf die großartige Leistung gegen Serbien und Montenegro zurückgeht. Aber sie dürfen und sollten davon träumen, Weltmeister zu werden. ARIEL SCHER
ARIEL SCHER beobachtet die WM für die argentinische Zeitung Clarin. Übersetzung: Birgit Kolboske