piwik no script img

Archiv-Artikel

die chancen der opfer von JOACHIM FRISCH

Es wird derart viel dummes Zeug gequatscht in den Medien, dass mir schon Haarbüschel vor den Gehörgängen wachsen, um dem Gesülze den Einlass ins Innenohr zu verwehren. Eine Floskel aber findet leider immer wieder den Weg in die Ohrmuschel: „Die Opfer hatten keine Chance.“ Auch seriöse Medien verkneifen es sich nicht, bei jedem Terrorattentat, Brand- oder Bombenanschlag von der fehlenden Chance der Opfer zu seiern. Als wäre ein Massenmord weniger schrecklich, wenn die Opfer eine Chance gehabt hätten, diese aber nicht hätten nutzen können.

Dass Opfer von heimtückischen Mördern keine Chance bekommen, versteht sich von selbst. Dinge, die sich von selbst verstehen, gehören nicht in eine Nachricht. „Heute ging die Sonne erneut im Osten auf“ oder „Der Täter Alfred Neumann ist männlich“ sind Nullmeldungen, weil absolut nichts Überraschendes oder Ungewöhnliches an ihnen haftet. Jeder verantwortungsbewusste Redakteur streicht sie weg.

Warum aber findet der Chancen-Kokolores immer wieder den Weg in die Nachrichten? Ist ein mit einer Knarre bewaffneter Mörder weniger kaltblütig, wenn er seinem Opfer ein Messer gibt, damit es sich wehren kann? Würde es dann in der „Tagesschau“ heißen, das Opfer habe eine zweiprozentige Chance gehabt? Hat das Opfer, wenn es sich mit einer Kuchengabel zur Wehr setzen darf, demnach eine 0,5-prozentige Chance?

Wären die Terroristen vom Elftenseptember weniger böse gewesen, hätten sie pro 100 Passagieren fünf Fallschirme verteilt? Hätte die Meldung dann gelautet: Die Opfer hatten eine fünfprozentige Chance? Wäre es nicht sogar noch ruchloser von den Mördern, den Opfern eine Chance zu geben? Sie um Fallschirme streiten oder mit Kuchengabeln kämpfen zu lassen? Die Mörder wären dann nicht nur kaltblütig, sondern auch noch sadistisch gewesen.

Was will uns die Chancen-Floskel sagen? Dass die Mörder wenigstens nicht zynisch waren? Das Ziel, die außergewöhnliche Rücksichtslosigkeit der Täter zu dokumentieren, wird sogar in sein Gegenteil verkehrt.

Was treibt die Schreib- und Sprechtäter dazu, solchen Quatsch angesichts des vielfachen Todes von Menschen zu verbreiten? Pure mediale Gedankenlosigkeit? Von unerträglicher Fußball-Handball-WM-Schwarz-Rot-Geil-Hysterie versülzte Hirne? Oder ist es die Bemäntelung der Hilflosigkeit des Überbringers der schrecklichen Botschaft, ein verqueres Moralurteil, das nichts erklärt und niemandem hilft, außer dem Sprecher, indem es ihn als einen besonders Empörten, also besonders Guten, outet? Geheucheltes Mitleiden des Mitteilers also? Wie der entfernte Verwandte, der sich bei der Trauerfeier in die erste Reihe drängt: Auch ich bin wichtig, seht, wie ich trauere, seht meine authentischen Gefühle.

So kommt es, wenn Journalisten nicht einfach ihre Arbeit tun, wenn sie nicht nur berichten, was zu berichten ist, sondern wenn sie eine klebrige Kumpanei mit allen Guten dieser Welt herstellen wollen, um nicht in der vollkommenen Bedeutungslosigkeit einer moralisch verkommenen Welt zu verschwinden. Das aber sind Fälle für die Therapie. In den Nachrichten sollten sie keine Chance haben.