die Wahrheit: Lassen Sie mich durch, ich bin Rettungsfahrer
Wer es nicht besonders schätzt, an der Seite eines überkandidelten Irren andauernd in die skurrilsten Abenteuer zu schlittern, sollte sich einen anderen Freund suchen als ausgerechnet Raimund.
Eben noch saßen wir gelassen in einem still durch die Abenddämmerung der Norddeutschen Tiefebene zischenden ICE - da plötzlich knackte es in der Bordsprechanlage und die Stimme des Chefschaffners sagte: "Ist ein Arzt an Bord? Wir brauchen dringend einen Arzt in Wagen 5, Platz 8!" Schon sprang Raimund auf und rief: "Oha, ich werde gebraucht!"
"Wie? Was?", stotterte ich: "Was soll das heißen, du wirst gebraucht? Du bist doch kein Arzt!" - "Aber ein legendärer Rettungswagenfahrer! 18 Monate lang Zivi in den frühen Achtzigern. Ich habe vielen Menschen das Leben gerettet!" - "Ja, weil du sie ins Krankenhaus gefahren hast …" - "Genau! In Rekordzeit!" - "Aber du hast noch nie jemanden wiederbelebt!" - "Na und? Ich hab oft zugesehen! Außerdem: Wer weiß, ob überhaupt ein Arzt im Zug ist? Vielleicht warten sie in Wagen 5 sehnlichst auf einen erfahrenen Rettungswagenfahrer, der wenigstens schon mal zugeschaut hat, wie …" - "Raimund!" Er war losgelaufen. "Raimund!" Er war nicht zu stoppen. "Raimund!" Ich lief hinterher.
Vor dem Abteil, in dem sich Platz 8 befinden musste, drängte sich eine Traube von Menschen. "So lassen Sie mich doch durch!", rief Raimund, und ich war froh, dass er zumindest die Zauberworte wegließ: "Ich bin Arzt!" Als wir an der Abteiltür anlangten, erblickten wir durch die Glasscheibe einen Mann, der zusammengekauert am Fenster saß. "Sieht fast aus, als schliefe er", flüsterte ich. "Tja", sagte Raimund, "du siehst einen Menschen, der schläft, aber dein medizinisches Fachwissen reicht ja auch gerade dazu aus, bei Kopfweh die Einnahme einer Schmerztablette zu empfehlen.
Ich hingegen …", er machte eine kurze, bedeutungsschwangere Pause, "… sehe das da!" Er wies auf ein kleines Tier an der Deckenlampe. "Eine Wespe!", sagte er dann: "Und was schließe ich daraus? Dass das Biest den Mann in den Schlund gestochen hat und der arme Kerl sich bereits am Rande des Erstickungstods befindet!" Ein Raunen ging durch die Menge. "Ich werde ihn retten - mit einem Luftröhrenschnitt!" - "Raimund!", beschwor ich ihn, doch schon zog er - begleitet von einem erneuten Raunen - ein Taschenmesser hervor, klappte es auf und öffnete die Tür. Gerade aber, als er mit erhobenem Messer an den Mann herantrat, öffnete dieser die Augen. "Heh!", kreischte er: "Hilfe! Mörder!"
Raimund schrie auf, die Menge schrie auf, und nur ich unterdrückte den fälligen Schrei, packte Raimund am Ärmel, tauchte mit ihm in dem Durcheinander unter und brachte ihn zurück zu unseren Plätzen, wo wir kurze Zeit später erfuhren, dass sich in die Lautsprecherdurchsage vorhin ein kleiner Zahlendreher eingeschlichen hatte und das tatsächliche Notfallopfer mittlerweile in Wagen 8, Platz 5 von einer zufällig mitreisenden Wandergruppe niedergelassener Ärzte aus dem Rhein-Neckar-Raum fachkundig gerettet worden war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken