die Wahrheit: Mein neues Leben in Weiß
In der Nachbarschaft hatte es bis vor zwanzig oder dreißig Jahren ein kleines Lebensmittelgeschäft gegeben. Seitdem war das Ladenlokal verschlossen ...
I n der Nachbarschaft hatte es bis vor zwanzig oder dreißig Jahren ein kleines Lebensmittelgeschäft gegeben. Seitdem war das Ladenlokal verschlossen, die Scheiben des Schaufensters und der Tür waren von innen mit weißem Papier beklebt. Eines Vormittags aber stellte ich überrascht fest, dass sich etwas verändert hatte: Das Papier war entfernt, eine Fensterdekoration kündete von einer neuen Nutzung des Ladens.
Allerdings nicht durch einen Lebensmittelhändler, wie mir sofort klar wurde, und auch kein anderes der an solchem Ort erwartbaren Gewerbe schien sich hier niedergelassen zu haben. Weder Personen noch einschlägige Waren waren zu sehen. Nichts Schriftliches half mir weiter, den Namen eines Inhabers suchte ich so vergebens wie einen Hinweis auf die Branchenzugehörigkeit.
Der tatsächliche Nutzungszweck des Lokals lag, jedenfalls für mein Verständnis, ebenso im Dunkeln wie die Bedeutung der Auslage. In farblicher Hinsicht hatte das neue Aussehen des Schaufensters große Ähnlichkeit mit dem alten: Alles war weiß. Das galt sowohl für die ausgestellten Objekte wie für den Vorhang, der die Tiefe des Raums verbarg. Auf diese Weise wurde, wenn auch mit anderen Mitteln als zuvor, wiederum eine monochrome Totalität geschaffen, doch hatte diese nichts Eindeutiges, und damit endete die Übereinstimmung.
Was aber waren die gezeigten Gegenstände? Konnten sie die im Verborgenen herangereiften Früchte eines jahrzehntelangen Prozesses sein, den ich für einen banalen Leerstand gehalten hatte? Was bedeuteten sie? Wie angenagelt stehen zu bleiben und sie anzustarren, musste ich mir strikt verbieten, wenn ich mich nicht verdächtig machen wollte. Künftig warf ich daher im Vorübergehen Blicke von möglichst großer Saugkraft ins Schaufenster, um ihm sein Geheimnis zu entreißen.
Darüber wurde es Winter, es schneite stark. Auf einem Besorgungsgang näherte ich mich wieder einmal dem Laden. Schon aus größerer Entfernung das Mysterium des Schaufensters fixierend, achtete ich nicht auf die Beschaffenheit des Gehwegs, glitt aus und stürzte. Unaufhaltsam näherte sich die Rückseite meines Körpers dem vereisten Trottoir; in meiner profunden Machtlosigkeit dachte ich einzig: Nur nicht mit dem Hinterkopf aufschlagen!
Keine Sekunde später lag ich in einer weißen Umgebung, die jedoch nicht die verschneite Straße zu sein schien. Ich schloss nicht aus, bei dem Sturz ums Leben gekommen zu sein und jetzt in dem weißen Panorama der rätselhaften Auslage ein neues zu beginnen. Wenn es mir gelang, den Kopf ein wenig zu drehen, konnte ich mich selbst draußen vorbeigehen sehen, wie ich, ohne anzuhalten, diskret ins Schaufenster blickte, wo ich mich selbst aufgebahrt sah, vage nur und wächsern weiß, kaum vom künstlichen Schnee zu unterscheiden.
Den Eindruck, ärztlich oder pflegerisch versorgt zu werden, gewann ich dabei nicht. Nur irgendwelche Kapuzenleute standen an den Eckpunkten meiner Grundfläche und produzierten arktische Obertöne. Das ist die reine Wahrheit.
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