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die WahrheitMein neues Leben in Weiß

Kolumne
von Eugen Egner

In der Nachbarschaft hatte es bis vor zwanzig oder dreißig Jahren ein kleines Lebensmittelgeschäft gegeben. Seitdem war das Ladenlokal verschlossen ...

I n der Nachbarschaft hatte es bis vor zwanzig oder dreißig Jahren ein kleines Lebensmittelgeschäft gegeben. Seitdem war das Ladenlokal verschlossen, die Scheiben des Schaufensters und der Tür waren von innen mit weißem Papier beklebt. Eines Vormittags aber stellte ich überrascht fest, dass sich etwas verändert hatte: Das Papier war entfernt, eine Fensterdekoration kündete von einer neuen Nutzung des Ladens.

Allerdings nicht durch einen Lebensmittelhändler, wie mir sofort klar wurde, und auch kein anderes der an solchem Ort erwartbaren Gewerbe schien sich hier niedergelassen zu haben. Weder Personen noch einschlägige Waren waren zu sehen. Nichts Schriftliches half mir weiter, den Namen eines Inhabers suchte ich so vergebens wie einen Hinweis auf die Branchenzugehörigkeit.

Der tatsächliche Nutzungszweck des Lokals lag, jedenfalls für mein Verständnis, ebenso im Dunkeln wie die Bedeutung der Auslage. In farblicher Hinsicht hatte das neue Aussehen des Schaufensters große Ähnlichkeit mit dem alten: Alles war weiß. Das galt sowohl für die ausgestellten Objekte wie für den Vorhang, der die Tiefe des Raums verbarg. Auf diese Weise wurde, wenn auch mit anderen Mitteln als zuvor, wiederum eine monochrome Totalität geschaffen, doch hatte diese nichts Eindeutiges, und damit endete die Übereinstimmung.

Was aber waren die gezeigten Gegenstände? Konnten sie die im Verborgenen herangereiften Früchte eines jahrzehntelangen Prozesses sein, den ich für einen banalen Leerstand gehalten hatte? Was bedeuteten sie? Wie angenagelt stehen zu bleiben und sie anzustarren, musste ich mir strikt verbieten, wenn ich mich nicht verdächtig machen wollte. Künftig warf ich daher im Vorübergehen Blicke von möglichst großer Saugkraft ins Schaufenster, um ihm sein Geheimnis zu entreißen.

Darüber wurde es Winter, es schneite stark. Auf einem Besorgungsgang näherte ich mich wieder einmal dem Laden. Schon aus größerer Entfernung das Mysterium des Schaufensters fixierend, achtete ich nicht auf die Beschaffenheit des Gehwegs, glitt aus und stürzte. Unaufhaltsam näherte sich die Rückseite meines Körpers dem vereisten Trottoir; in meiner profunden Machtlosigkeit dachte ich einzig: Nur nicht mit dem Hinterkopf aufschlagen!

Keine Sekunde später lag ich in einer weißen Umgebung, die jedoch nicht die verschneite Straße zu sein schien. Ich schloss nicht aus, bei dem Sturz ums Leben gekommen zu sein und jetzt in dem weißen Panorama der rätselhaften Auslage ein neues zu beginnen. Wenn es mir gelang, den Kopf ein wenig zu drehen, konnte ich mich selbst draußen vorbeigehen sehen, wie ich, ohne anzuhalten, diskret ins Schaufenster blickte, wo ich mich selbst aufgebahrt sah, vage nur und wächsern weiß, kaum vom künstlichen Schnee zu unterscheiden.

Den Eindruck, ärztlich oder pflegerisch versorgt zu werden, gewann ich dabei nicht. Nur irgendwelche Kapuzenleute standen an den Eckpunkten meiner Grundfläche und produzierten arktische Obertöne. Das ist die reine Wahrheit.

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2 Kommentare

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  • SA
    Sherriff Amputee

    Des Rätsels Lösung ist doch offensichtlich. Der Ladenbesitzer war der Beschneider der jüdischen Gemeinde. WAS hätte er denn ins Schaufenster stellen sollen?

  • SL
    Sam Lowry

    Als ich neulich mal wieder tot war, kam ein ganz in weiß gekleideter Herr auf mich zu und sprach: "Sam, als ich dich vor kaum 47 Jahren fragte, was du in diesem Leben erleben möchtest, da sagtest du mir wortwörtlich: Nein, nicht Beamter oder Kolumnist; nein, diesesmal möchte ich das volle Programm!

    Und jetzt hast du dich zum x-tenmal aufgehangen, dich vor eine Zug geworfen, bist von einer Brücke gesprungen, mit dem Motorrad in eine Leitplanke gerast, hast dir eine Überdosis verpasst, was soll ich denn nur mit dir machen? Du nervst mich langsam, weil ich keine Ausreden mehr habe für dein unglaubliches Überleben dieser Aktionen."

    Und ich dachte nach, ob ich gerade mal wieder träume und in demselben Augenblick wurde ich wach. Aber was war das für ein Rückenschmerz? Ich sah in den Spiegel und fand einen riesigen Fußabdruck auf meinem schönen weißen Pyjama. Wie kam der wohl dahin? Was hatte ich denn eben geträumt? Was war gestern?

    Ich machte mir einen Kaffee, rauchte eine Zigarette, überlegte und schrieb erstmal einen Leserbrief in der Wahrheit...