die Wahrheit: Verlassen vom Zimmer
Mein Zimmer, das ich seit Stunden seelisch auszufüllen versuchte, begab sich plötzlich an einen anderen Ort, ohne mich mitzunehmen.
M ein Zimmer, das ich seit Stunden seelisch auszufüllen versuchte, begab sich plötzlich an einen anderen Ort, ohne mich mitzunehmen. Ich blieb zurück, hatte aber keine Ahnung, wo. Das ist mir auch noch nicht passiert, dachte ich eingedenk der Überraschungen, die mir mit fortschreitender Lebensdauer schon bereitet worden waren.
Meine bisherige Empfindung, irgendwie parallel zum Leben zu existieren, wich dem Argwohn, dass es sich nun wohl weit komplizierter verhalten musste. Betagte Menschen schätzen solcherlei Herausforderungen nicht sonderlich, verlangt ihnen doch bereits die Organisation der banalsten Alltagsverrichtungen das Äußerste ab.
Da, wo ich jetzt zu sein schien, wurden Schellenkränze im 7/8-Takt geschüttelt. Dies war jedenfalls der akustische Eindruck, den ich durch bloßes Hören gewann. Zur optischen Wahrnehmung hatte ich keine Lust, denn wie sich denken lässt, interessierte mich hauptsächlich die Wiederauffindung meines Zimmers. Deshalb machte ich mich sogleich auf die Suche, schließlich wollte ich so bald wie möglich in mein altes Leben zurück.
Ich gab ein Zimmergesuch in der lokalen Zeitung auf. Dafür musste ich dem Sachbearbeiter versprechen, ihn später im Alter zu pflegen. Genauestens überprüfte ich insbesondere die Rubrik mit dem Titel „Unvermittelt aufgetauchte Zimmer“. In der Zwischenzeit beschlichen mich bange Gedanken. Weshalb mein Zimmer mich verlassen haben mochte, fragte ich mich. War ich ihm so unerträglich?
Und durfte ich meinem Zimmer danach überhaupt noch vertrauen? Selbst wenn ich es zurückbekäme – konnte es sich nicht jederzeit wieder davonmachen? Womöglich sogar, wenn ich schlief? Zuletzt deinstallierte ich diese Bedenken, da sie mir nicht weiterhalfen.
Ich ließ mir verschiedene aufgegriffene Zimmer zeigen, doch war meins nicht darunter. Erst kurz bevor meine Hoffnung mich verließ, lernte ich eine Person kennen, die glaubte, sich auf einem Schiff zu befinden und an den Bordspielen teilzunehmen. Von ihr erhielt ich einen Hinweis, der sich als entscheidend herausstellen sollte. So fand ich dann mein Zimmer und damit mein altes Leben wieder.
Das Zimmer, in das ich mich begreiflicherweise nur sehr vorsichtig hineinwagte, schien unverändert und nahm mich ohne die geringsten Abstoßungsversuche sogleich an, daher überschüttete ich es auch nicht mit Fragen oder gar Vorwürfen, sondern tat, als ob nichts geschehen wäre. Das erschien mir aus taktischen Gründen am klügsten. Ich verhielt mich ganz wie zuvor und machte mich mit der größten Selbstverständlichkeit erneut daran, mein wiedergewonnenes Zimmer seelisch auszufüllen. Nachdem ich dies stundenlang unter großen Mühen versucht hatte, begab sich mein Verstand anderswo hin.
„Halt! Hiergeblieben!“, rief ich ihm, hilflos am Boden liegend, nach. Ich wollte ihn am Hosenbein oder Rockzipfel festhalten, doch vergebens. Aus dem Augenwinkel musste ich mitansehen, wie er die Tür öffnete und das Zimmer verließ. Das war mir auch noch nicht passiert.
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