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Archiv-Artikel

der türkenblitz oder warum ich keinen führerschein besitze von MICHAEL RINGEL

„Save me, save me, from myself“, novembern The The, als ich auf die U-Bahn warte und vor mich hin träume, wie man nur in der U-Bahn vor sich hin träumen kann. Plötzlich weckt mich ein Junge aus meiner Trance, und ich pule mir die iPod-Bohnen aus den Ohren. Er trägt blondes langes Haar und ist höchstens 16: „Können Sie mir sagen, ob die U-Bahn dahin fährt, was draufsteht, oder kommt sie daher?“ Wie bitte? Ach so: „Die U-Bahn fährt immer dahin, was drangeschrieben ist.“ – „Aha“, nickt der Blonde, als ob er gar nichts versteht, und fragt nach: „Und die U-Bahn in die andere Richtung kommt dann später hier auf dem Gleis?“ Der Junge ist tatsächlich noch nie im Leben U-Bahn gefahren, staune ich und weise ihm den Weg. Dankbar steuert er das richtige Gleis an. Ist er zum allerersten Mal in einer Großstadt? Sicher kennt er nicht den coolsten U-Bahn-Gangster aller Zeiten: Jeff Costello, Le Samourai. Wahrscheinlich kennt er sich besser mit Autos aus. Obwohl die Jungs heutzutage doch am liebsten Autos abfackeln. Und schon sehe ich jemanden, der nie im Leben einen Führerschein gemacht hat: mich. Ich weiß auch, warum.

Ich fahre wie der Teufel. Ein 16-jähriger Teufel. Wir sind zu acht und haben zwei Autos: einen Ford Türkenblitz und einen Opel Commodore. Am Steuer des Ford Taunus 17m jage ich mit einem Affenzahn durch die Serpentinen der Eifel. Auf der linken Gegenspur. Rechts neben mir der stolze Commodore. Tür an Tür. Vor der Kurve geht keiner vom Gas. Kommt uns jemand entgegen, gibt es Tote. Mindestens neun. Kurz vor der Kurve streifen die Reifen links den Schotterrand. Der Türkenblitz zieht rüber – und wie ein Rhinozeros breche ich durchs Unterholz. An den Bäumen vorbei, die drei neben mir schreien vor Angst und Lust. Knapp steuere ich an den zwei Bäumen vorbei, am dritten, vierten. Bremsen, lenken, bremsen. Links anschlagen. Nach rechts schleudern. Das Metall knirscht erbärmlich auf Holz – und rummmms!

Vier Köpfe schlagen gegen Plastik. Einer blutet. Nichts passiert. Tür auf. Rausrollen und wieder schreien vor Angst und Lust. Danach auf dem Rückweg gegenseitig anfeuern, wie geil es war. In Sichtweite des Nürburgrings. Langsam mit hundert Sachen über die Autobahn. Das ist so verdammt cool. Einer legt Kraftwerk auf, und alle singen mit: „Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn / Vor uns liegt ein weites Tal / die Sonne scheint – ein Glitzerstrahl!“

Zeit für unser Lieblingsspiel: Fahrerwechsel während der Fahrt. Ein Wagen lässt sich zurückfallen, der Beifahrer steigt mit einem Fuß aufs Gas und hält das Steuer, der Fahrer klettert nach hinten, der Beifahrer steigt auf den Fahrersitz, einer von hinten nach vorn. Immer im Kreis. Dann Gas geben, aufschließen zu den anderen und wild hupen, während die Sonntagsfahrer mit Hut und Mantel empört gestikulieren. Und ich winke lachend und bin jung und doof und traurig, denn dieser Moment heißt Glück und ist schon vorbei. Und ich ahne bereits: Nie werde ich einen Führerschein machen.

„If you can’t change the world. Change yourself“, empfehlen inzwischen The The, und ich bin noch immer bei den acht. Einer starb bei einem Unfall auf Kreta, einer starb bei einem … – endlich kommt die U-Bahn.