der rote faden: Warum esst ihr Türken kein Schweinefleisch?
Durch die Woche mit Ebru Taşdemir
Es war 1992. Mein Abi hatte ich gerade mal so bestanden und brauchte zum Erwachsenfühlen noch einen Führerschein. Aber keine Pappe ohne diesen verfluchten sechsstündigen Erstehilfekurs am Wochenende. Ich stolperte in den stickigen kleinen Raum hinein und knallte voll in einen Michael, wie er mir später erzählte.
Michael wurde mein erster deutscher Fastfreund. Wir tauschten Telefonnummern aus. Es waren die letzten Tage im Ramadan, und meine Eltern waren ständig zum Fastenbrechen bei Nachbarn eingeladen. Ich nutzte die Zeit für lange Telefonate mit Michael und hing das ganze Ramadanfest hindurch an der Strippe. Unser Telefon stand im Flur, das Kabel reichte bis kurz hinter meine Zimmertür. Meine Mutter schwirrte alle fünf Minuten ins Zimmer und deutete auf die Besucher*innen in unserem Wohnzimmer, die auf den Tee warteten. Als es ihr dann reichte, drohte sie damit, das Telefonkabel aus der Steckdose zu ziehen. Michael fragte, ob wir morgen ins Kino wollten. Ich legte auf und servierte brav Tee und Gebäck. Der nächste Tag musste ja gerettet werden.
War der Film eigentlich scheiße oder gut? Keine Ahnung. Aber an das Danach erinnere ich mich. Michael und ich und standen an einer Bratwurstbude. Er bestellte. Ich schaute mich um. „Willst du nix essen?“, fragte er. „Nö“, antwortete ich. Er biss in die Bratwurst. Dann stellte er die Frage, die die Geigenmusik in meinem verknallten Kopf verstummen ließ. „Warum esst ihr Türken eigentlich kein Schweinefleisch?“ Die Geige im Kopf setzte kurz noch einmal an, aber das schiefe Geschrammel klang wie Ferkelgequieke.
Als ich meinen Vater abends nach dem Grund fragte, sagte er das, was alle so sagen: „Das Schwein ist nicht hygienisch, dreckiges Tier bla bla bla.“ Aber auch wenn das Schwein jeden Tag duschen und sich dreimal am Tag die Zähne putzen würde, ich glaube, dieser Abscheu vor dem Schwein wäre immer noch da. Ganz davon abgesehen, dass auch Hühner, dieser Logik folgend, nicht hygienisch sind, sie fressen ihren eigenen Kot, genau wie Schweine.
Sigmund Freud sagt, dass der Ekel die Ambivalenz von Abwehr und Lust darstellt. Am einfachsten ist die Abgrenzung durch solch ein deutliches Nahrungstabu. Aber wer hätte 1992 gedacht, dass es im Jahr 2019 Morddrohungen gegen eine Leipziger Kita geben könnte, nur weil auf dem Speiseplan keine Schweinswürstel mehr stehen?
Viele Freunde meiner Eltern aßen schweinische Fleischprodukte, und das ohne jeden Skrupel. Papas bester Freund aus Junggesellenzeiten, Fahrettin amca, war Fahrer in der Schultheiss-Brauerei, und seine tägliche Freude war ein kühles Pils und eine Bockwurst. Meine Eltern machten einmal den Fehler, mit Fahrettin amca, seiner Frau und uns Kindern die Grüne Woche zu besuchen. Vier Kinder und drei Erwachsene schauten ihm dabei zu, wie er der Reihe nach Blutwurst, Stücke vom Spanferkel und Froschschenkel verdrückte. Wir Kinder lachten und schrien jedes Mal „iiiiiih“. Seiner Frau war das sichtlich peinlich, aber wir kriegten Gesprächsstoff für Jahre.
Der theatralischste Schweinefleischmoment unserer Familie spielt sich übrigens in Österreich ab. Auf dem Weg in die Türkei übernachteten wir einmal in einem pittoresken Gasthaus. Am nächsten Morgen standen auf dem Tisch Brötchen, Kaffee und eine adrette Wurst-und-Käse-Platte. Mein Vater ließ die Platte zurückgehen (es stinkt, sagte er), und meine kleine Schwester warf sich dramatisch auf den Boden und schrie: „Ich will Schiiiinken!“ Die Hausdame brachte den Teller zurück und erklärte dem Gast erst einmal, was das für ein gutes Stück Fleisch sei. Um ihn vollkommen zu demütigen, rief sie noch: „Geht aufs Haus!“ Alles andere war unspektakulär: Mein Vater brachte zu den Sommerfesten an unseren Schulen den eigenen Grill mit, alle anderen grillten ihre Nackensteaks am großen Grill. Paps briet Köfte, und wenn meine Schwester zum anderen Grill hinüberschielte, dann schickte er sie mit einem Nicken rüber, und sie durfte sich eine Bratwurst holen. Im Gegenzug versorgten meine Eltern alle anderen mit unseren Köfte (Ach, ist das Lamm? Schmeckt gar nicht so streng!), und ich glaube, dass ich heute kein Schweinefleisch esse, hat viel mit meinen Eltern zu tun, die sich trotzdem mit ihrem Minigrill dazustellten und trotzdem meiner Schwester ihren Schinken ließen und ihren Freunden trotzdem die Bockwurst gönnten, auch wenn sie selbst keine aßen.
Wollen Sie noch wissen, was aus Michael wurde?
Mit Michael wurde es nichts. Nicht weil er diese doofe Frage stellte, sondern weil er sich nach zwei intensiven Wochen mit mir plötzlich daran erinnerte, dass er eine Freundin in den USA hatte. Ich knallte ihm eine und lief heulend nach Hause. Meine Mutter öffnete die Tür, und ich packte meinen ersten Liebeskummer schluchzend auf den Schoß meiner Mutter und erzählte ihr alles. „Domuz“ sagte sie. So ein Schwein.
Nächste Woche Nina Apin
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