der rote faden : Sehen Sie heute: den Saisonauftakt!
durch die woche mit
Klaus Raab
Entschuldigung, liebe Leserinnen und Leser, dass wirSie hier krass gegen Ihr Interesse bespaßen, aber Zeitunglesen ist kein Wunschkonzert, und wir haben es uns ja auch nicht ausgedacht, dass schon wieder alle nur noch über Fußball reden. Also „alle“ im Sinn von „alle“, und „nur noch“ im Sinn von „nur noch“.
Aber „im Ernst“, eigentlich müsste ja Wahlkampf sein in Deutschland, es sind schließlich nur noch läppische fünf Spieltage bis zur Bundestagswahl, und bis dahin müsste es doch verstärkt darum gehen, ob die große Meisterin noch stolpert und ihr Verfolger das ausnutzen kann, und wie die Punktgleichen dahinter im direkten Duell und so weiter.
Aber nö: Die Leute lesen lieber das relevante Mats-Hummels-Interview („Bei mir im Freundeskreis hat kein Einziger ein Tattoo“) im Kicker-Sonderheft zum Bundesligastart (5,90 Euro) und denken über die immer gleichen gesellschaftspolitischen Themen nach: Wann schmeißt der HSV diesmal den Trainer raus? Schaffen die Bayern endlich die Überraschung und werden nur Zweiter? Was ist grün und stinkt nach Fisch? Fussi, Fussi, Fussi. Als gäbe es nichts anderes im Fernseh …
Oh, wait! Es gibt ja auch nichts anderes. Erst am Sonntag kommt, nach Wochen, Anne Will zurück, Plasbergs Krawalltheater am Montag, und sogar die „heute-show“ hat sich gedacht, dass es just in den Monaten vor einer großen Wahl nichts gibt, was man mit abgehangenen Reporterparodien und doofen Wortwitzen begleiten könnte. Stattdessen: Fussi, ständig.
Die Woche begann schon mit Fußball, in der ARD. Es spielte der mächtige Drittligist Hansa Rostock ein Qualitätsmatch gegen den immens wichtigen Erstligaverein Hertha BSC, der kürzlich Berlin zugekleistert hat mit Plakaten, auf denen steht, dass er 2024 Deutscher Meister werde, was schön war, einerseits, denn: Endlich formulierte mal wieder jemand eine Zukunftsvision! Andererseits lag der neutrale Beobachter natürlich am Boden vor Lachen, denn, hallo, ein Champions-League-Teilnehmer aus einer Stadt ohne Flughafen?
Dieses Spiel zwischen Hansa und Hertha jedenfalls, dieses Ist-in-Wahrheit-doch-allen-wurscht-Spiel, wurde dann zu einem Ereignis der Woche. Noch am Donnerstag gab es Folgeschäden in Form von Bild-Zeitungstiteln („Brennpunkt Stadion: Mein Leben als ULTRA“). Denn was war passiert? Rostocker und Berliner Fans hatten einander live im Fernsehen mit Feuerwerkskörpern beschossen, es waren gar Hartplastikstadionsitzschalen angekokelt worden – eine Unternehmung, die zweifellos als geistlos und nicht ungefährlich gelten kann, die aber in einem derart burgunderseligen, DFB-nahen Onlineforumsjargon von Kommentator Gerd Gottlob verhandelt wurde („Idioten“, „Dreck“, „trist“, „Wahnsinn“), dass die ganze Sache, die man nicht verharmlosen muss, um sie nicht gleich zum Ausnahmezustand aufzublasen, auch dadurch erst ihre übergroße Bedeutung erhielt. Die Einschaltquoten waren aber okay.
Dienstag war dann Hoffenheim gegen Liverpool (ZDF). Freitag war Bayern gegen Bayer (ZDF). Und Mittwoch war SPD-Kanzlerkandidat gegen eine Wand, wie der Stern-Journalist Jens König berichtete (Twitter): „#Fußball geht bei Martin #Schulz im Wahlkampf immer. Er schießt in Stralsund auf die Torwand. Drei unten, drei oben. Treffer: null. #SPD“.
Fussi. Fussi. Fussi. Wobei man anmerken sollte, dass das Fernsehen seine publizistische Verantwortung natürlich schon ernst nimmt. Nur eben: im Rahmen der Fußballberichterstattung. Wenn es etwas zu besprechen gibt, dann widmet die ARD zur Not auch mal den „Sportschau Club“ zum gesellschaftskritischen Format um.
Moderator Alexander Bommes haute dort nach dem Spiel in Rostock wie nebenbei den Obama der Woche raus: „Keiner dieser Menschen ist so geboren worden, sie sind alle so geworden“, sagte er über die Krawallbrüder im Stadion – und zitierte damit den meistgelikten Tweet, der je abgesetzt wurde.
Barack Obama – die Älteren erinnern sich: Es gab mal einen vernunftgesteuerten US-Präsidenten, gar nicht so lange her – hatte nach dem rechtsradikalen Terroranschlag von Charlottesville getwittert: „Niemand hasst von Geburt an eine andere Person aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Religion …“ Bommes hat so dem deutschen Fussischnarch eine quasi weltpolitische Dimension verliehen, weshalb man sagen kann, dass letztlich alles in Ordnung ist mit der hiesigen Diskurslandschaft, und diese ganze Dieselscheiße besprechen wir dann vielleicht einfach mal, wenn der VfL Wolfsburg spielt.
Auch irgendwie lustig, dass die Autokorrektur aus Bommes gerade Bommel gemacht hat, oder?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen