der neue bruder von EUGEN EGNER :
Vom Notar hatte ich die Adresse meines neuen Bruders bekommen: Hugo wohnte in der Bahnstraße. Warum nicht einfach hingehen und ihn kennen lernen? Es war nicht unwahrscheinlich, ihn am Vormittag eines Werktags daheim anzutreffen, denn nach den Angaben des Notars war Hugo Frührentner. Wahrscheinlich spielte er mit seiner elektrischen Eisenbahn oder fütterte die Kaninchen. Ich konnte sicher noch viel von ihm lernen. Es war zudem die Zeit der Weihnachtsbasteleien, und auch in dieser Hinsicht versprach ich mir einiges an neuen Möglichkeiten. Frohen Muts, ein erbauliches Lied auf den Lippen, machte ich mich auf den Weg zur Bahnstraße.
Das Mehrfamilienhaus, in dem Hugo wohnen sollte, war alt und sehr hässlich. Im Treppenhaus, nein, eigentlich schon vor der Haustür, stank es penetrant nach Moder, Urin und Küchenausdünstungen. Es gab, an unterster Stelle, tatsächlich ein Klingelschild mit unserem Familiennamen. Ich klingelte, die Tür sprang schnarrend auf. Entsprechend der Platzierung des Namensschilds musste sich die gesuchte Wohnung im Erdgeschoss befinden. Dort war nur eine Tür, unmittelbar neben dem Fuß der Treppe, und an der dazugehörigen Klingel stand ebenfalls unser Name. Eine ärmlich und ungepflegt aussehende Frau mittleren Alters öffnete. Ohne zu grüßen sah sie mich misstrauisch, ja feindselig an. So bestimmt, dass es gerade noch höflich klang, sagte ich, zu wem ich wollte. „Ich bin sein Bruder.“
„Kommen Sie rein“, erwiderte die Frau stumpf und deutlich widerwillig. Sie schien nicht meine Schwägerin zu sein, da sie mich mit „Sie“ ansprach. Sie führte mich in die dreckige Küche, die ich mir lieber nicht genauer ansah. Trotzdem registrierte ich, dass von der Decke üppige Staubflocken und Spinnweben hingen. In einer Ecke breitete sich schwarzer Schimmelpilz aus. Die Frau forderte mich auf: „Setzen Sie sich.“
Ich überwand meine Abneigung und nahm auf einem unansehnlichen Stuhl Platz. Hinter meinem Rücken kramte die Frau, deren Identität ich noch immer nicht kannte, geräuschvoll in einer Büffetschublade. Dabei sprach sie mürrisch, ohne sich umzudrehen. „Mein Mann ist nicht da.“
Ich stutzte. Also war sie doch meine Schwägerin! Was nun? Was sollte ich als Nächstes sagen? Musste ich ihr das Du antragen? Was tat sie überhaupt? Ich wandte mich unsicher zu ihr um und sah geradewegs in den Lauf einer Pistole, die mir an den Kopf gehalten wurde. Vor Schreck schlug ich reflexartig von unten gegen die Waffe und sprang auf. Ein Schuss löste sich krachend. Ob die Wand oder die Decke getroffen wurde, sah ich nicht mehr, so schnell floh ich aus der Wohnung.
Hinter mir knallte es ein zweites Mal, doch da hatte ich bereits die Haustür aufgerissen. Ich rannte die Bahnstraße hinunter und hoffte, meine Schwägerin werde mir in ihren Hausschuhen nicht so schnell folgen können beziehungsweise es nicht wagen, in aller Öffentlichkeit auf mich zu schießen. Und wirklich tat sie es auch nicht. Danach hatte ich jedoch keine Lust mehr herauszufinden, ob Hugo eventuell umgänglicher als seine Frau war. Ich habe meinen neuen Bruder bis heute nie kennen gelernt.