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Archiv-Artikel

der arzt hat geburtstag von EUGEN EGNER

Vierzig wird er heute, und seine Frau hat fünf fette Torten gebacken sowie hektoliterweise Kaffee gekocht. Seine neue Freundin sitzt bei Tisch auf seinem Schoß, außerdem sind noch seine Eltern da. Für die Ehefrau ist kein Gedeck aufgelegt, denn sie bedient pausenlos den Arzt und seine Gäste. Der Kaffee geht unverhofft früh zur Neige, sofort begibt sich die Bedienung in die Küche. Solange das Wasser kocht, überlegt sie, ob sie ihrem Mann mit einer anderen Frisur besser gefallen würde. Um das herauszufinden, schneidet sie sich schnell mit der Tranchierschere die Haare. An der Kaffeetafel trifft sie dann aber nur ein strafender Blick des Gatten. Ihre Schwiegermutter, die ahnt, worum es geht, schleppt sie in die Küche zurück. Der Vater des Arztes ist pensionierter Lokführer und weiß Denkwürdiges aus der Welt der Eisenbahn zu berichten. Furchtbar erregt schreit er auf seinen Sohn und dessen Freundin ein, stößt sein Glas um und legt sowohl die Tischdecke als auch den Teppich in Falten. Da kehrt des Arztes Mutter verdrossen aus der Küche zurück, denn der Sauerbraten ist zerplatzt und die Küche über und über mit Tunke besudelt. Alle laufen hin, um sich das anzusehen. Kopfschüttelnd wird der Ehefrau zugeschaut, wie sie die Zimmerdecke abwischt. Der Arzt bittet die Gäste wieder zu Tisch und schließt die Küchentür, damit die Wisch- und Scheuergeräusche seine nun zu haltende Rede nicht stören. Feierlich verkündet er, er wolle den Medizinerberuf an den Nagel hängen, um fortan das ihm viel gemäßere Leben eines Privatgelehrten zu führen. Als finanziellen Rückhalt gibt er das Gehalt seiner Freundin an. Damit stößt er auf den entschiedenen Widerspruch der Mutter, die darauf besteht, ihr Sohn habe Oberarzt zu werden. Als der Aufsässige aber sein Vorhaben hartnäckig verteidigt, entspringt seine Mutter der Tischgesellschaft und schließt sich in der Toilette ein. Sie droht mit brüchiger Stimme, allen verfügbaren WC-Reiniger zu schlucken, wenn ihrem Willen nicht entsprochen werde. Langsam wird der Arzt unruhig, die Freundin kichert, der pensionierte Lokführer wankt zum Garderobenspiegel und schaut nach, ob er sich noch erkennt. Der Arzt versucht, seine Mutter verbal zu beeinflussen, als Antwort kommt jedoch nur „Oberarzt!“ zurück. Händeringend kniet das Geburtstagskind vor der Toilettentür, drinnen wird hörbar der Verschluss der WC-Reiniger-Flasche aufgeschraubt. Der Arzt gibt auf. Ein von der Siegerin diktierter Kontrakt wird unterschrieben und unter der Tür durchgeschoben. Die Mutter kommt heraus und will sofort heim, um sich ihre Lieblings-Krankenhaus-Serie auf dem eigenen Bildschirm anzusehen. Als ein gebrochener Mann bestellt der Arzt seinen Eltern ein Taxi. Sobald sie damit abgefahren sind, ruft er ein zweites, denn ihn hält es nicht länger an dem Ort der Niederlage. Im wohnlichen Appartement der Freundin soll dem Gebeutelten reichlicher Trost gespendet werden. Ganz schnell packt die Gattin den beiden mehrere Torten und Kaffeekannen ein, dann schickt sie das Paar, mit nützlichen Tips zur Empfängnisverhütung versehen, auf den Weg.