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Debatte um MigrationFatale Normalisierung

Gastkommentar von Scharjil Khalid

Rechte Narrative bahnen sich immer stärker den Weg in die gesellschaftliche Mitte. Und die rechtspopulistischen Parteien kassieren die Dividende.

Nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg solidarisieren sich Menschen mit Kerzen, Blumen und Plüschtieren

D en Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik hätte die Union ohne die Stimmen der AfD nicht verabschieden können. Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz empörte sich zu Recht über diesen „Dammbruch“, während der Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg ankündigte, aus Protest sein Bundesverdienstkreuz zurückzugeben. Überraschend kommt diese Entwicklung indes nicht, sondern sie ist die logische Konsequenz einer seit Jahren verschärften migrationskritischen Rhetorik, die sich längst nicht mehr auf rechtspopulistische Parteien beschränkt.

Auch etablierte Parteien greifen die migrations-skeptischen Narrative auf, um sich im politischen Wettbewerb zu profilieren. Damit verschieben sie die politische Mitte weiter nach rechts und normalisieren Positionen, die einst als extrem galten. So stellt das GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften fest, dass einwanderungsfeindlicher Sprachgebrauch den Wähleranteil rechtsextremer Parteien erhöht.

Scharjil Khalid

ist islamischer Theologe und Imam. Er fungiert als Hauptstadtrepräsentant der Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland.

Mit Themen wie „Abschiebungs­offensiven“ oder „geschlossene Grenzen“ verschieben sie den politischen Diskurs und legitimieren rechtsextreme Forderungen. Anstatt die Wählerbasis der AfD zu schwächen, wird deren Radikalisierung und Mobilisierung weiter verstärkt. Migranten werden dadurch zunehmend als politische Sündenböcke instrumentalisiert. Die Folge ist, dass wirkliche gesellschaftliche Herausforderungen und das enorme Potenzial von Menschen mit Einwanderungsgeschichte ignoriert werden.

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Im Jahr 2023 hatten 24,9 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund. 7,1 Millionen Menschen davon sind wahlberechtigt, 12 Prozent aller Wahlberechtigten. Statt das Wählerpotenzial dieser Bevölkerungsgruppe zu erkennen und Politik zu ihren Gunsten zu fördern, werden Menschen mit Einwanderungsgeschichte oft stigmatisiert oder kriminalisiert. Besonders stark liegt der Fokus dabei auf muslimischen Migranten.

Muslime unter Generalverdacht

Oft wird vorschnell ein Analogieschluss von „Migrantenkriminalität“ hin zum „Islamismus“ gezogen, wodurch alle Muslime unter Generalverdacht geraten. Die Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache: Die Anzahl der „islamistischen Gefährder“ liegt laut BKA bei „nur“ 483 Personen – das entspricht lediglich 0,0085 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime. Während etwa 6 Millionen Muslime aufgrund von lediglich 500 Personen unter Generalverdacht gestellt werden, rückt die eigentliche Gefahr in den Hintergrund: der Rechtsextremismus. 2023 gab es laut Verfassungsschutzbericht 40.600 Rechtsextremisten in Deutschland.

Anhand dieser empirischen Realität ist es verwunderlich, dass Migration dennoch das Wahlkampfthema Nummer eins war. Dieser kontrafaktische Diskurs schadet letztlich uns selbst, denn wir verlieren unsere Zukunft. Fast die Hälfte der unter Fünfjährigen hat einen Migrationshintergrund. 45 Prozent der sechs Millionen Muslime in Deutschland sind unter 25 Jahre alt. Diese Menschen sind nicht das Problem, sondern die Zukunft unseres Landes. Das geht viel zu oft unter.

So räumten am Morgen des 1. Januars 2025 in rund 300 Orten in Deutschland Tausende muslimische Jugendliche der Ahmadiyya Muslim Jamaat den Silvestermüll ehrenamtlich auf. Dieser Ausdruck der Verbundenheit von Muslimen zu Deutschland fand kaum Erwähnung in der öffentlichen Debatte. Diese Menschen stellen auch deswegen unsere Zukunft dar, weil wir ein massives Problem des Fachkräftemangels haben. Bis 2035 gehen 18 Millionen Menschen in den Ruhestand, während nur 11 Millionen nachrücken.

Diese Lücke kann ohne Zuwanderung unmöglich geschlossen werden. Viele Geflüchtete und Migranten tragen bereits jetzt entscheidend zur deutschen Wirtschaft bei. Von den 2015 nach Deutschland gekommenen Geflüchteten standen im Jahr 2022 knapp zwei Drittel im Arbeitsverhältnis. Viele von ihnen arbeiten unter ihrem Qualifikationsniveau, so ist gut ein Drittel der Migranten in Berufen tätig, die ihren Qualifikationen nicht gerecht werden.

Verkanntes Potential

Während Migration häufig problematisiert wird, wird das Potenzial von Menschen mit Einwanderungsgeschichte verkannt, das bei Weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Hinzu kommt, dass migrationsverschärfende und islamfeindliche Diskurse nicht nur Deutschland für neue Zuwanderer unattraktiv machen, sondern auch das Risiko erhöhen, dass bereits gut integrierte Menschen mit Einwanderungsgeschichte Deutschland verlassen.

Die Fokussierung auf Migration als Problemthema lenkt zudem von anderen, weitaus größeren Herausforderungen ab. So entgehen dem deutschen Staat jedes Jahr über 200 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung und Geldwäsche. Die flüchtlingsbezogenen Ausgaben des Bundes – rund 28 Milliarden Euro im Jahr 2023 – verblassen im Vergleich dazu. Dennoch wird Migration im Wahlkampf immer wieder als zentrales Thema aufgegriffen, während die großen finanziellen Baustellen unbeachtet bleiben.

Hier wird besonders deutlich, wie „auf den Schultern der Kleinen“ Wahlkampf betrieben wird. Die Bezahlkarte für Asylbewerber wurde als Symbol für Verschwendung dargestellt, obwohl der Betrag von 460 Euro monatlich im Vergleich zu den Milliarden, die durch Cum-Ex-Skandale verloren gingen, verschwindend gering ist. Anne Brorhilker, ehemalige führende Ermittlerin im Cum-Ex-Skandal, fasste es treffend zusammen: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“

Es ist an der Zeit, den Diskurs zu ändern. Statt die Narrative rechtspopulistischer Akteure zu übernehmen, müssen etablierte Parteien das Potenzial von Migration hervorheben. Potenzial­orientierte Diskussionen statt problemzentrierter Debatten sind das Gebot der Stunde, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und Demokratie zu stärken.

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