ddr, 1. 10. 1989: noch 8 Tage bis zur Wende : Verriegelte Sonderzüge rollen aus Prag und Warschau
– In vielen Kirchen wird an diesem Sonntag für die Verhafteten gebetet, stellenweise auch für die Befehlsgeber.
– Polizeiketten, Hausarreste – in Berlin gründet sich trotz massiver Behinderung der Demokratische Aufbruch.
– Eine Gründungsinitiative für eine Grüne Partei wird gebildet.
– In Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) reicht die Bürgerinitiative „Sozialismus in Demokratie“ ihr Zulassungsersuchen ein.
– Die Initiatoren des Neuen Forums kündigen Widerspruch gegen die Einstufung als verfassungsfeindliche Organisation an. Rechtsanwalt Gregor Gysi (heute PDS) vertritt sie. „Oktoberflugblatt“ als erste Publikation des Neuen Forums erscheint. Ziele und Wege werden erklärt.
– Seit Januar stellten bislang über 162.000 DDR-Bürger einen offiziellen Ausreiseantrag in die BRD. 26.000 wurden abgelehnt, der Rest ist bereits im Westen.
– In Prag und Warschau starten verriegelte Sonderzüge mit 6.000 Flüchtlingen. In der DDR steigen Beamte zu, um Ausreisedokumente auszustellen.
– Auf dem Hauptbahnhof in Dresden versammeln sich hunderte Menschen, die versuchen, in die Züge zu kommen.
– Vor der nun leeren BRD-Botschaft in Prag versammeln sich erneut tausende, die versuchen den Zaun zu überklettern.
– In Warschau befinden sich wenige Stunden nach Zugabfahrt schon wieder 70 DDR-Bürger in der BRD-Botschaft.
– Herman Kant, regimetreuer Präsident des Schriftstellerverbandes, fordert mit Blick auf die Hetzkampagnen der DDR-Medien in einem Brief, den die Junge Welt später druckt: „Jetzt kommt es nicht so sehr darauf an, die anderen schlecht, als vielmehr das Eigene gut zu machen.“
– Notizen von Frank Elbe, Leiter des Büros Genscher, der einen Zug begleitet, um für Sicherheit der Flüchtlinge zu garantieren:
Ein Beamter der Reichsbahn nimmt seine rote Mütze ab und winkt den Flüchtlingen zu. Gleisarbeiter folgen seinem Beispiel. Diese Geste der Solidarität in Gegenwart der Allmacht des Staates – massiv vertreten durch Bahnpolizei und Stasi – symbolisiert anschaulich die Brüchigkeit des Regimes. Bei der Fahrt durch Plauen stehen hunderte von Menschen an den Fenstern ihrer Wohnkasernen und winken mit weißen Tüchern. Ein Transparent ist zu sehen: „Das Vogtland grüßt den Zug der Freiheit“. Im Zug verbreitet sich Ergriffenheit. Kurz vor der Grenze zur Bundesrepublik wird es noch einmal still. Der Zug fährt an kilometerlangen, perfekt installierten Sicherheitsanlagen vorbei. Als bei Gutenfürst der Zug den schwarz-rot-gold gestrichenen Grenzpfahl passiert, bricht ein unvorstellbarer Jubel los. RENI
Der 9. Oktober 1989: Die Wende in der DDR.15 Jahre später: das taz-Dossier