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Archiv-Artikel

das wort zum montag Nachtschattengewächs 1993

Tief eingetaucht ist Kristo Šagor in Bremens Mix aus Nordischem und Klein-Berlin. Der Jungdramatiker ist seit Dezember vergangenen Jahres Hausautor am Bremer Theater. In drei Wochen läuft das Stipendium aus. Für die taz holt er aber bis zum Schluss Perlen aus dem hanseatischen Schlick.

Mathematisch betrachtet ist der Höhepunkt der Punkt, an dem die Steigung negativ wird. Über einen Sportler oder Musiker zu sagen, er sei am Höhepunkt seiner Karriere angekommen, bedeutet neben dem beabsichtigten Kompliment also vor allem das Gegenteil eines Kompliments: Die Potenzen sind erschöpft, ab jetzt geht es nur noch bergab.

Am Sonnabend war der längste Tag des Jahres, per Definition der Sommeranfang. Die heißesten Monate liegen direkt vor uns, alles um uns ist saftig und schwül, doch schon seit Sonntag werden die Tage kürzer und die Nächte länger, der Höhepunkt ist überschritten.

Als Kind und als Jugendlicher habe ich die Sommer stets in Kroatien verbracht, bis heute habe ich ein Missverhältnis zum deutschen Sommer. Wenn die Sonne brennt und die Mücken sirren, erinnert mich das immer an irgendwas, das ich nicht gleich fassen kann, an eine süße Melancholie, eine bekannte Fremde, erst dann fällt es mir ein, ja, an Kroatien.

Letzte Woche hat Annie Lennox ihr drittes Soloalbum veröffentlicht, und es scheint meine Sommerplatte 2003 zu werden. Annie, meine Kopfhörer und ich spazieren am Weserufer entlang, fahren in der Linie 8 zum Hauptbahnhof und schleppen die Einkaufstüten vom Supermarkt in der Westerstraße nach Hause. 1993 begleitete mich Annies erstes Soloalbum mit meinen Eltern im Auto nach Kroatien, heute zwitschert sie mir irgendwas von Regen ins Ohr („The streets are wet again with rain, but I‘m walking just the same‘‘), während ich auf der Universitätsallee in mein anthrazitfarbenes Shirt schwitze, das auch aus dem Jahr 1993 stammen dürfte. Von wegen Regen.

Ebenfalls im selben Jahr lasen wir im Deutschunterricht eine Kurzgeschichte von Gabriele Wohmann, in der die Protagonistin ständig Sonnenbrillen trägt, um sich von der Welt zu verschließen. Den Versuch, diese Figur nachzuahmen, indem ich meine Augen hinter Sonnenbrillen versteckte, fand ich erst lange unglaublich witzig, weil spielerisch, dann verwandelte ich mich im Laufe der Jahre in mein blasses Selbst als Nachtschattengewächs. Und schon bald wußte ich wortreich zu erläutern, ich als Blauäugiger sei ja viel sonnenempfindlicher als ein Braunäugiger.

Heute laufe ich ohne Sonnenbrille durch Bremen, blinzle grinsend in die Sonne, und Annie 2003 beschallt meine Schritte. Nach Kroatien fahre ich dieses Jahr erst im September, wenn es schon dunkler und die Tag kürzer sind. Bis zum dunklen Dezember ist dann noch ein bißchen Zeit, aber keine Angst vor dem 21. Dezember: Der Tiefpunkt ist der Punkt, an dem die Steigung positiv wird.

Kristo Šagor