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Archiv-Artikel

das ganze ausmaß des denkschadens von REINHARD UMBACH

Wenn irgendwo auf dieser Welt heiße Lava bis an das Dachgeschoss kocht oder wenn hierzulande bei einer Überschwemmung die Suppe bis in den zweiten Stock schwappt, können wir das immer sofort sehen und bei uns denken: „Mein Gott, was für eine Brühe!“ Doch trotz des schon sichtbaren Schadens ergehen sich die Katastrophenbeobachter am Ort des Geschehens in Skepsis: Noch, sagen oder schreiben sie jedes Mal, sei die Schadenshöhe nicht in ihrem „ganzen Ausmaß“ zu beziffern.

Deshalb muss der ferne Zuschauer immer noch ein paar Wochen lang warten, bis sich die stinkende Suppe zurückgezogen hat und alte Balken aus dem Schlamassel ragen. Dann nämlich wird wieder ein Beobachter „vor Ort“ die Lage begutachten und vorsichtig die Worte wagen, seit heute sei so langsam „das ganze Ausmaß der Schäden“ abzusehen.

Oft kommen auch Politiker zum Rand des Schreckens, um sich vom „ganzen Ausmaß der Schäden“ zu überzeugen. Auch sie schienen bis dahin noch letzte Zweifel am Ganzmaß zu hegen, die sich anders als durch den persönlichen Blick auf Räumfahrzeuge wohl nicht ausräumen ließen.

Wie groß aber ist die Schadenszusatzmenge, die zwischen dem „einfachen“ und dem „ganzen“ Ausmaß liegt? Ist das Ganze wie bei Hegel mehr als die Summe der einzelnen Trümmerteile? Gibt es immaterielle Schäden, die sich jeder Messung entziehen und sich nur in den feuchten Augen der Erschütterung spiegeln. Oder denkt sich der Betrachter solcher Fluten, so hoch sie stehen mögen, dass nach Abzug der Kameras sicher das Wasser auch noch zum Schornstein reinkommen werde.

Bei Banken- oder Schmiergeldskandalen fehlen zunächst vertraute Pegelstände. Deshalb fließen in die anfängliche Berichterstattung die Worte „Sie richteten vermutlich Schäden von noch unbekanntem Ausmaß an“ mit ein. Am Ende des Aufklärungsprozesses wird dann eine lange Zeitstrecke verflossen sein, nach der „das ganze Ausmaß des entstandenen Schadens“ leider nie ermittelt werden konnte.

Verdächtig schnell hat sich daher im Falle des Orkans „Kyrill“ die Versicherungswirtschaft auf eine Schadenshöhe von zwei Milliarden Euro verständigt. Woher stammt da nur der Optimismus der Vertreter vom Stamme Schätz, wo sich die Lichtungen flächendeckend bis zur Kenntlichkeit gelichtet haben? Sieht hier tatsächlich wer den Wald vor lauter entwurzelten Bäumen? Nicht einmal der Borkenkäfer kennt doch schon das „ganze Ausmaß“, da er noch die Kauwerkzeuge wetzt. So stehen die Schmiergeldnehmer und -geber am Ende noch ratloser und angeschmierter da als die Helfer am Rand der Katastrophe. Diese haben wenigstens noch die Hoffnung, das Ausmaß eines Tages „ganz“ zu kriegen.

Also ist Vorsicht über die Maßen geboten – gerade in der brüchigen Welt des Einzelschicksals, die nach Wittgenstein alles das ist, was der Fall ist. Sind denn tatsächlich schon alle moribunden Krüppelkiefern und Halbfettfichten ermittelt worden? Darf man tatsächlich glauben, dass nicht doch noch irgendwann ein müder Wanderer zum hingestreckten Opfer kippender Siegerlinden wird? Sicher? Ganz sicher …? Krawumm!!!